Gesellschaft

„Wenn sich Leben weiterentwickelt, muss Recht Schritt halten“

Viktoria Schmidt
Philip Szelag
Jean-Lennard Walter
Lesezeit 15 Minuten
Verschiedene Versionen des Grundgesetz
Über die Jahrzehnte hat das deutsche Grundgesetz ziemlich zugenommen.
Credit: Viktoria Schmidt
Am 24. Mai 2024 wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Nichts und niemand bleibt über so einen langen Zeitraum unverändert, auch die deutsche Verfassung nicht. Wie sich das Grundgesetz gewandelt hat, haben wir mithilfe von Zahlen, Daten und Grafiken deutlich gemacht.
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Im Verlauf dieser Jahre hat sich die deutsche Verfassung zwar stark verändert, im Kern jedoch immer als zentraler Grundpfeiler unserer Demokratie Bestand gehabt. Allerdings „ist sie bedrohter, als sie jemals war“, sagt Dieter Grimm, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht und emeritierter Professor für Verfassungsrecht. Er ist überzeugt: „Eine Demokratie hält sich nur so lange, wie die Leute sie wünschen.“ Und wie die letzten Monate gezeigt haben: Die einen wünschen sie, die anderen nicht.

Mindestens 50.000 in Hamburg, ungefähr 70.000 in Köln und 150.000 in Berlin – so viele Menschen sind nach Schätzungen der jeweiligen Polizeibehörden an verschiedenen Tagen innerhalb der ersten Monate des Jahres unter dem Motto „Gegen Rechts“ auf die Straße gegangen, um für die Demokratie zu demonstrieren. In München waren es zwischen 100.000 und 200.000 Demonstrierende; so viele, dass die Münchner Polizei die Versammlung auflösen musste. „Wenn ich die Bilder sehe und höre, dass Versammlungen wegen Überlauf abgesagt werden mussten – um die Demokratie auf der Straße zu verteidigen – dann sind das Gänsehautmomente für mich“, findet Kathrin Groh, Professorin für Öffentliches Recht an der Universität der Bundeswehr München. Weiter führt sie aus: „Demokratie lebt von Demokraten, und Demokraten müssen auch zeigen, dass sie da sind – und laut sein.“

Grund für die Demonstrationen war das Geheimtreffen von Politikern der AfD und CDU, Mitglieder der Identitären Bewegung und der Werteunion und diverser Unternehmer, die in einem Hotel nahe Potsdam Deportationspläne für Millionen Deutsche mit Migrationshintergrund besprochen haben sollen. Die mutmaßlichen Pläne der Rechtsextremen deckte eine Investigativrecherche von Correctiv im Januar auf.
 

Geburtstagswünsche fürs Grundgesetz

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Bild der ersten Fassung des Grundgesetzes

Alles Gute zum Ehrentag, liebes Grundgesetz!
Bald wirst du 75 Jahre alt. Was Grimm & Groh dir und unserer Demokratie wünschen, erfährst du auf den nächsten Seiten des Sliders!

Bildcredit: Deutscher Bundestag/Sylvia Bohn

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Herr Prof. Dr. Dieter Grimm blickt in die Kamera

Professor Dieter Grimm:
"Ich würde mir wünschen, dass unsere Demokratie aus der jetzigen Krise gestärkt hervorgeht. Das wäre mir das Allerwichtigste, und dazu kann auch jeder seinen Teil beitragen."

Bildcredit: Wissenschaftskolleg zu Berlin/Maurice Weiss

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Frau Prof. Dr. Kathrin Groh blickt in die Kamera

Professorin Kathrin Groh:
"Ich würde mir vom deutschen Volk Langmut, Verständnis für Kompromisse und auch dafür, dass Politik in Krisenzeiten auch kompliziert und langwierig sein kann, wünschen. Also einfach:
lass sie mal machen!"

Bildcredit: Kathrin Groh
 

Mehr Verfassungsgericht fürs Grundgesetz?

Vor dem Hintergrund des Erstarkens der AfD und sonstiger Feinde der Demokratie kam die Diskussion auf, das Bundesverfassungsgericht als Verfassungsorgan widerstandsfähiger zu machen und umfangreicher im Grundgesetz zu verankern. „Wenn ich als Verfassungsfeind an die Macht komme, dann ist natürlich mein erstes Ziel, Personal auszuwechseln“, meint Groh. Derzeit sind lediglich die Existenz und Aufgaben des Verfassungsgerichts auf Verfassungsebene geregelt.

Die Wahl der Richter mit Zwei-Drittel-Mehrheit, die Amtsdauer und alle weiteren Aspekte stehen nur im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht. Grimm sagt, „dass der Erfolg des Bundesverfassungsgerichts zum großen Teil davon abhängt, dass die Richter mit Zwei-Drittel-Mehrheit gewählt werden. Das hat zum Vorteil, dass nicht eindeutige Parteileute da reinkommen, weil man immer die Zustimmung der anderen Seite braucht.“ Daher ist er Vertreter der Idee, „dass man rechtzeitig was machen sollte; das heißt, die Zwei-Drittel-Regel in der Verfassung zu verankern, sodass eine populistische Regierung, wenn wir sie einmal haben sollten, dies mit einer einfachen Mehrheit nicht ändern kann.“ Schon weit vor der derzeitigen Diskussion gab es Überlegungen darüber, auch Grimm hat oft darüber gesprochen. Lange Zeit hatte er „das Gefühl, dass einfach nicht gehört wird. Jetzt ist es aber so weit.“

Doch gehen wir noch einmal einen Schritt zurück: Was ist das Grundgesetz denn überhaupt und wie hat es sich konkret verändert?

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„In Deutschland haben wir ein geschriebenes Verfassungsrecht als höchste Rechtsquelle in der Normenpyramide“, so Groh. Das Grundgesetz hat sich seit Inkrafttreten am 24. Mai 1949 bis zum heutigen Tag ziemlich verändert. Mehr als dreimal so viele Seiten, etwas mehr als doppelt so viele Wörter und ein knappes Drittel mehr Artikel umfasst es heute im Vergleich zur Urfassung. Sie ist der Meinung, dass „wir eine recht schwatzhafte Verfassung“ haben. Grimm pflichtet ihr bei: „Sehr häufig ist es vorgekommen, dass meinem Geschmack nach zu viel in die Verfassung geschrieben worden ist.“

In welchem Rahmen kann die Verfassung geändert werden?„In Artikel 79 Absatz 3 Grundgesetz steht: Die Grundsätze von Artikel 1 und 20 dürfen nicht geändert werden“, erklärt Grimm. „Man könnte die Demokratie nicht streichen.“ Über die Verfassungsmäßigkeit dieser Änderungen entscheidet das Bundesverfassungsgericht. „Das Verfassungsgericht kann prüfen, ob sich der verfassungsändernde Gesetzgeber an den Artikel 79 Absatz 3 gehalten hat. Es kann sein, dass es verfassungswidriges Verfassungsrecht gibt“, sagt Grimm. Ein konkretes Beispiel für so einen Fall skizziert Groh: „Das Asylrecht ist in den 90er Jahren geändert worden. Da ist ein neuer Artikel eingefügt worden, der den Weg nach Deutschland blockiert und es einfacher macht, Leute wieder rauszuschmeißen.“ Sie führt weiter aus, dass „diese Verfassungsänderung vom Bundesverfassungsgericht auf ihre Verfassungswidrigkeit hin überprüft worden ist. Da hat unter anderem auch die Menschenwürde eine Rolle gespielt.“

 

Und wie läuft sowas ab?„Irgendwoher muss eine Initiative kommen. Die kommt sicher häufig aus der Gesellschaft: Von Interessengruppen oder über die Medien, aber manchmal auch von der Politik selbst“, erläutert Grimm. Bezogen auf die derzeitige Diskussion um die tiefere Verankerung des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz veranschaulicht er: „Es entsteht oder es droht ein Problem. Man möchte darauf vorbereitet sein und unternimmt eine Verfassungsänderung.“ Daraufhin wird ein Änderungsvorschlag ausgearbeitet, dann im Bundestag und im Anschluss im Bundesrat darüber abgestimmt. Dabei reicht keine einfache Mehrheit. „Das Zwei-Drittel-Erfordernis kann schwierig sein“, sagt Grimm. Das zeigt sich für ihn auch darin, dass es „viel mehr Initiativen gegeben hat als Verfassungsänderungen. Es sind eine Reihe von Verfassungsänderungen, entweder früh und stillschweigend oder auch im Verfahren, gescheitert.“

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Im Rahmen eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes können Artikel abgeändert, gestrichen oder hinzugefügt werden. Dabei können mehrere Normen der Verfassung gleichzeitig betroffen sein. Im Verlauf der Jahrzehnte gab es 67 Änderungsgesetze, die 239 Änderungen bewirkt haben. Ob das zu viel oder zu wenig ist, „kann man ganz schwer pauschal beantworten“, meint Grimm. Auch Groh ist ähnlicher Meinung, denn „die Anzahl von Grundgesetzänderungen ist dann schlecht, wenn sie Funktionen oder Symbolhaftigkeit von Verfassung irgendwie kaputt machen, und das sehe ich nicht. Über die Sinnfrage kann man sich natürlich streiten.“

Es gab mehr als doppelt so viele Änderungen, als es Streichungen und Ergänzungen gab. Daran sieht man, dass das Grundgesetz in seiner Urfassung bereits einen Großteil der Themen, die auch heute noch von verfassungsrechtlicher Relevanz sind, in irgendeiner Form geregelt hat. Lediglich Anpassungen waren vonnöten. Groh bringt es auf den Punkt: „Wenn sich Leben weiterentwickelt, muss Recht Schritt halten.“

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Mehr als die Hälfte aller Normen im Grundgesetz wurden bereits verändert. Ein paar Artikel unterlagen sehr häufig Änderungen. Unter anderem war das Verfassungsgericht oft Gegenstand solcher Anpassungen. „Und dann gibt es mehrere sehr, sehr wichtige Änderungen, die den Föderalismus betroffen haben“, sagt Grimm. Dabei standen häufig Artikel 73 und 74 im Mittelpunkt. Er ergänzt, dass „der Föderalismus ursprünglich im Grundgesetz sehr dualistisch angelegt war. Jede Aufgabe gehört entweder dem Bund oder den Ländern, dazwischen gab es nichts.“ Das hat sich geändert, weil es jetzt viele Dinge gibt, in dem die beiden zusammenwirken müssen, „sodass man auch die Haushalte, das Finanzgebaren der Länder, mit denen des Bundes vereinheitlicht hat“, nennt Grimm als Beispiel.

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Gesetze zur Änderung des Grundgesetzes können entweder durch die Regierung, Fraktionen des Bundestages oder durch den Bundesrat eingebracht werden. Dabei „geht es immer um Machtkämpfe“, weiß Groh. Grimm führt ihren Punkt aus: „Es gibt eine Neigung, bei Verfassungsänderungen möglichst viel in die Verfassung zu schreiben. Das hängt damit zusammen, dass die politischen Parteien gerne versuchen, so viel wie möglich von ihrem eigenen Programm in der Verfassung zu befestigen. Nicht umsonst ist das Grundgesetz doppelt so dick, wie es mal war“, ist sich Grimm sicher.

Unter den neun CDU/CSU-Regierungen wurden insgesamt 145 Änderungen der Verfassung beschlossen, während es in den restlichen sechs SPD-Regierungen lediglich 25 Änderungen waren. In gemeinsamer Regierungsverantwortung haben Union und SPD 69 Verfassungsänderungen bewirkt. Der Blick auf die Zahlen verrät daher, dass die CDU/CSU eine änderungsfreudigere Partei als die SPD ist.

Drei Wahlperioden stechen besonders heraus. In allen war die Union in der Regierungsverantwortung. In der 5. Legislaturperiode standen vor allem die Notstandsgesetzgebung und die Neuregelung der Finanzverfassung im Mittelpunkt. Die 12. Wahlperiode ist von der Wiedervereinigung und dadurch notwendig gewordenen Anpassungen des Grundgesetzes geprägt gewesen. Unter Kanzlerin Merkel fanden in der 16. Legislaturperiode die Föderalismusreformen statt, in deren Rahmen auch die Schuldenbremse in das Grundgesetz aufgenommen worden ist.

Wie kann so eine Änderung ablaufen?

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Und gibt's nun mehr Verfassungsgericht fürs Grundgesetz?

Da sind wir schlussendlich wieder bei der Frage: Wird das Bundesverfassungsgericht stärker ins Grundgesetz integriert? Anfang Februar glaubt Grimm, es „wird nicht schwierig sein, eine Zwei-Drittel Mehrheit zu kriegen. Da sind CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP sicherlich alle dafür.“ Die Realität sieht anders aus: Nach intensiven Gesprächen mit der Ampelkoalition hat die CDU/CSU-Fraktion Ende Februar die Gespräche über eine entsprechende Grundgesetzänderung vorerst beendet. Nach Ostern soll weiter darüber gesprochen werden.

Groh würde „die Möglichkeit für nicht verkehrt halten. Das ist ein Instrument der wehrhaften Demokratie, um ihr höchstes Gericht, das die Verfassung hütet, zu schützen.“ Auch Grimm erachtet es als sinnvoll und ist der festen Auffassung: „Erst durch das Verfassungsgericht hat die Verfassung ihren Biss bekommen.“

Ein Artikel von

Viktoria Schmidt
Philip Szelag
Jean-Lennard Walter