Der Preis von kostenlosem Journalismus
7:30 Uhr an einem Dienstag im Industriegebiet von Memmingen, tief im Allgäu.
Eric Schneider zieht ein letztes Mal an seiner Zigarette, dann betritt er das zweistöckige, verglaste Gebäude. Niemand begrüßt ihn. Der Empfang ist schon lange nicht mehr besetzt. Erst oben in seinem Büro trifft er auf eine Mitarbeiterin. Sobald er seinen PC hochgefahren hat, warten unzählige Emails auf ihn. Eric Schneider ist Redaktionsleiter beim Memminger Kurier, einem Anzeigenblatt. Bei diesem Wort schüttelt er jedoch ablehnend den Kopf. "Die verfügen über keine eigene Redaktion“, sagt Schneider. Er selbst verwende lieber den Begriff "kostenlose Wochenzeitung". In Deutschland haben diese laut Bundesverband Deutscher Anzeigenblätter (BVDA) insgesamt eine wöchentliche Gesamtauflage von 58,9 Millionen Exemplaren. Sie stellen lokale Informationen für alle zur Verfügung - kostenlos, flächendeckend und regelmäßig. Über 300 Verlage sollen durch „Vielfalt und Eigenständigkeit“ einen Beitrag zur Pressekultur in Deutschland leisten, so der BVDA.
Der Memminger Kurier ist ein Puzzleteil in diesem System. Eine feste Redakteurin und drei freie Mitarbeiter bilden hier das Team. Für das „riesige Verbreitungsgebiet“ und eine Auflage von knapp 120.000 sei es zu wenig, sagt Schneider. Seit einem halben Jahr suchen sie neue Mitarbeiter, doch sie finden keine passenden Bewerber. Lange Arbeitszeiten und Schichten am Wochenende schreckten die jungen Leute von einem Volontariat ab, vermutet Schneider. Deshalb bleibe ihm als Redaktionsleiter keine Zeit, draußen selbst zu recherchieren. Seine Position zwinge ihn in den Innendienst: „Ich delegiere die Aufgaben an meine Leute und sehe mich als Manager beim Memminger Kurier.“
Ressourcenknappheit in der Branche bedeute auch, so effizient wie möglich zu arbeiten. Eine „eierlegende Wollmilchsau“ müsse man in einem kleinen Verlag sein. In seiner Position als Redaktionsleiter überprüfe er zwar stets die qualitativen Standards des Memminger Kuriers, grundsätzlich aber bleibe das Problem: „Sie können nicht immer und überall vor Ort sein und daher sind Sie, um die Zeitung vollzubekommen, stets auch auf zugeliefertes Material angewiesen“, so Schneider.
Schneider meint damit Pressemitteilungen. Die werden zum Teil unverändert übernommen. Das zeigt auch ein Vergleich im Zeitraum April 2022 mit dem Memminger Konkurrenzblatt Extra. Beide Blätter berichteten beispielsweise über das Naturschutzgebiet „Booser Ried“ mit identischem Text und Foto vom Landratsamt Unterallgäu. Eine Kennzeichnung, dass es sich um eine Pressemitteilung handelt, ist in beiden Fällen nicht klar ersichtlich. Diese Beobachtungen kann man nicht nur beim Memminger Kurier machen. Solche Vorfälle gibt es auch bei anderen kostenlosen Wochenzeitungen.
In Richtlinie 1.3 des Pressekodex heißt es: „Pressemitteilungen müssen als solche gekennzeichnet werden, wenn sie ohne Bearbeitung durch die Redaktion veröffentlicht werden.“ Verstößt ein Medium gegen diesen Grundsatz, kann der Deutsche Presserat es darauf hinweisen, den Vorfall missbilligen oder es öffentlich rügen. Allerdings ist dies eine freiwillige Selbstkontrolle. Sie gilt nur für Printverlage, die dazu eine Selbstverpflichtungserklärung unterzeichnet haben. Und für Anzeigenblätter scheint die Lage unklar zu sein: Der Presserat verweist Beschwerdewillige auf seiner Website auf den Werberat und die Landesmedienanstalten. Letztere sind laut Medienstaatsvertrag aber nur für „Telemedien“ zuständig, also den Online-Auftitt. Der Kurier Verlag ist jedoch Mitglied im BVDA. Und der bestätigte auf Anfrage, dass seine Mitglieder nach den Grundsätzen des Presserates arbeiten. Zudem sorge die „intensive Wettbewerbssituation in der Branche“ für eine zusätzliche funktionierende Selbstkontrolle.
Nach 27 Jahren beim Memminger Kurier freut sich Schneider auf die anstehende Rente, vor allem nach den kräftezehrenden Corona-Jahren. In dieser Zeit gingen die Anzeigen zurück, was große finanzielle Probleme mit sich brachte. Im April 2020 musste die ganze Redaktion in Kurzarbeit. Für Schneider eine „komplett neue Erfahrung“. Die gesamte Branche hatte während der Pandemie mit Geldeinbußen zu kämpfen, wie Zahlen des BVDA belegen. Von 2019 auf 2020 brach der Umsatz um fast 25 Prozent ein.
Um lokalen Medien in der Krise zu helfen, beschloss die Bayerische Staatskanzlei im Juni 2020 eine Corona Sonderförderung in Höhe von zwei Millionen Euro. Davon entfielen eine Millionen auf kostenlose Wochenzeitungen – für Zustellung, innovative technische Verbreitung sowie Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. Die Bayerische Staatskanzlei betonte, wie wichtig die „redaktionellen Informationen aus unmittelbarer Umgebung sind, die von anderen Medien nicht angeboten werden.“ 46 Verlage stellten dafür einen Antrag. 2021 gab es eine weitere Projektförderung für Verlage, die von Umsatzeinbußen betroffen waren. In welcher Höhe die Förderung beim Memminger Kurier angekommen sei, wisse Schneider nicht. „Wir wurden von Ippen Media aufgekauft, deshalb läuft die Finanzbuchhaltung über München. Sonderförderungen sind bestimmt geflossen, wie und in welcher Höhe sie uns zugutegekommen sind, kann ich nicht sagen.“ Die Zahlen waren auch über Anfragen bei der Bayerischen Staatskanzlei und Ippen Media nicht zu recherchieren.
Während die Presseförderung auf Bundesebene aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken gescheitert war, erfuhr die Landesförderung in Bayern Zustimmung von politischer und journalistischer Seite. So teilte die FDP mit, dass es sich um eine „pandemiebedingte, notwendig gewordene Hilfsmaßnahme handelt, da regionale Medien aufgrund einbrechender Werbemaßnahmen besonders unter Druck geraten sind.“ Lediglich die Bayernpartei äußerte Kritik. Der Landespressesprecher Herold Amann schrieb auf Anfrage: „Damit entsteht Erpressungspotential. Wir würden auf Sicht geförderte, staatsnahe Medien bekommen.“
Auf andere Art hat aber auch der Bund die kostenlosen Wochenzeitungen in der Pandemie indirekt kofinanziert: Er schaltete vermehrt Anzeigen. Darunter fiel beispielsweise die bundesweite Lasst-euch-impfen-Kampagne. „Wer dann am lautesten geschrien hat, hat auch am meisten abgegriffen“, meint Schneider. Jegliche Art von Förderung dürfe aber keinen Einfluss auf die journalistische Qualität von Anzeigenblättern haben. Diese Meinung teilt auch Jörg Eggers, der Hauptgeschäftsführer des BVDA: „Wir achten besonders stark darauf, klarzumachen, was Redaktion und was Anzeige ist.“
Letztendlich habe der Memminger Kurier die Pandemie gut überstanden. Grund dafür sei die feste Verankerung in der Region, so Schneider. „Man hat kurze Drähte in der Stadt, da kennt jeder jeden. Mit dem jetzigen Oberbürgermeister bin ich schon seit 30 Jahren per du“, berichtet der Redaktionsleiter stolz. Solch enger persönlicher Kontakt birgt allerdings auch die Gefahr von Gefälligkeitstexten, so Medienwissenschaft und Medienkritik. Hinzu kommt: Niemand möchte riskieren, dass wichtige Kunden – seien es Unternehmen oder die Verwaltung von Stadt oder Gemeinde - ihre Anzeigen zurückziehen, heißt es in der Branche. Schließlich sind kostenlose Wochenzeitungen ohne staatliche Förderung vollständig werbefinanziert.
Vom Schreibtisch aus sieht Schneider die Mitarbeiter des Memminger Kuriers, die sich um den Verkauf der Anzeigen kümmern. Während sie pünktlich in den Feierabend gehen, sitzt Schneider noch am Rechner. Übermorgen wird die neue Ausgabe gedruckt, bis dahin muss alles stimmen. Layout, Text und Bilder. Die Sonne steht mittlerweile tief und spiegelt sich in seiner Brille.
17:08 Uhr. Zeit für eine Zigarette.
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