Umgeben von digitalen Reizen: Wenn das Gehirn nicht zur Ruhe kommt
Spielhallen, Hotspots der visuellen Ablenkung.
Jordan Kessler
Christine Spatzl, Gründerin von „Digital Zen“, begrüßt die Teilnehmenden ihres Workshops.
Jordan Kessler
„Nun bitte ich euch alle, eure Handys auszuschalten. Damit war bei einem Digital-Detox-Workshop zu rechnen, oder?“ Mit diesem Satz leitet Christine Spatzl die kommenden 90 Minuten ein. Als das letzte Handy ausgeschaltet ist, kommt ein ungewohntes Gefühl auf: Für viele ist es das erste Mal seit langem, dass sie nicht erreichbar sind. Kein Bildschirm, kein Vibrieren, keine Ablenkung. In diesem Moment zeigt sich, digitale Reize sind sonst überall. Aber was und wie viel sie mit uns machen, merken wir nicht. Spürbar ist: Etwas ist komisch, wenn sie fehlen.
Die Realität
Was das im Alltag bedeutet, zeigen Zahlen: Rund zweieinhalb Stunden täglich schauen Deutsche laut einer Studie des Digitalverbandes Bitkom auf ihr Smartphone – die 24-jährige Erzieherin Vanessa und die 21-jährige Jura-Studentin Jana deutlich länger. Vanessa verbringt bis zu sechs Stunden täglich am Handy, Jana kommt auf bis zu dreizehn Stunden, wenn sie alle Geräte zusammenzählt. Beide klagen über schwer greifbare Symptome: Müdigkeit, Gereiztheit, Rastlosigkeit.
Vanessa schildert einen typischen Feierabend: Sie liegt auf dem Sofa, im Hintergrund läuft eine Serie und gleichzeitig scrollt sie durch Instagram – oft über Stunden. Am Ende erinnert sie sich kaum noch daran, was sie gesehen hat. Zurück bleibt das Gefühl von Leere und Erschöpfung. „Mein Kopf ist dauernd am Rotieren und ich weiß nicht, warum.“ Tagsüber arbeitet Vanessa als Erzieherin viel mit Kindern und kaum am Bildschirm, doch in ihrer Freizeit greift sie immer wieder zum Handy.
Für ihr Studium arbeitet Jana viel am Bildschirm. In Vorlesungen, beim Lesen von Gesetzestexten oder in Gruppenarbeiten ist das Handy mit sozialen Medien immer in Reichweite. „Ich kann mich einfach nicht lange konzentrieren, ohne den Faden komplett zu verlieren“, sagt die Studentin im vierten Semester. „Es ist, als bräuchte mein Hirn irgendwas, das mich unterhält.“
Der Bildschirm bleibt für viele ein ständiger Begleiter, selbst im Bett. (Symbolbild)
Jordan Kessler
Die Reizüberflutung
Was die Zwei erleben, kennt Daniela Holsboer gut. Sie hat über digitale Vernetzung promoviert und beschäftigt sich seit Jahren mit der Wirkung digitaler Reize. Sie hat Bücher darüber veröffentlicht, unter ihrem Geburtsnamen Otto. „Die Überflutung geht ab dem Moment los, wo wir das Handy einschalten.“ Das sei der Grund, warum viele Menschen sich heute selbst kaum noch wahrnähmen. Nervosität, Kopfschmerzen oder auch Schlafprobleme seien direkte Folgen.
Gleichzeitig hinterlassen digitale Reize auch schleichende, oft unbemerkte Veränderungen. "Unser Gehirn ist neuroplastisch," sagt sie. "Es baut sich um." Viele Menschen seien nicht mehr in der Lage, auch nur fünf Minuten am Stück zu lesen. Eine Entwicklung, die direkt auf den digitalen Alltag zurückzuführen sei: „Hier eine SMS, da eine Mail, da dies und da das.“ Ein permanenter Wechsel.
Eine Studie der serbischen Universität Niš beschreibt, wie sich parallele Mediennutzung auf Menschen auswirken kann. Wer ständig zwischen mehreren digitalen Reizen wechselt, reagiert oft impulsiv, kann sich schlechter konzentrieren und filtert weniger gut, was wirklich wichtig ist. Die Folge: Gedanken verlieren an Tiefe, die Gefühlslage schwankt schnell.
Der Workshop
Dem wirkt Christine Spatzl, Gründerin von „Digital Zen“ entgegen. Ihre Workshops stehen alle offen – von Studierenden bis zu Führungskräften – und sollen die Teilnehmer dazu bringen, sich bewusst mit ihrem Medienverhalten auseinanderzusetzen.
Der erste Schritt: Alle Handys ausschalten. Ein Teilnehmer zögert und sagt: „Ich bin handysüchtig." Andere sprechen von Unruhe, dem Gefühl etwas zu verpassen. Oder von einer überraschenden Leichtigkeit.
Spatzl spricht über Bildschirmzeit und Aufmerksamkeit, dann teilt sie mehrere farbige Stifte und Arbeitsblätter aus. Darauf ein Kreis, unterteilt in 24 Segmente. Der Kreis steht für 24 Stunden oder symbolisch für ein Netto-Gehalt von 6.720 Euro. Ein Segment entspricht also einer Stunde oder 280 Euro.
Dann beginnt die Aufgabe: Lebenszeit einteilen. „Mal angenommen, du bekommst 6.720 Euro netto, jeden Monat.“ Davon werden 2.240 Euro, acht Teile, abgezogen für die Miete. Es folgen 1.620 Euro, sechseinhalb Segmente, für den Lebensunterhalt. Viele tragen Hobbys, Arbeit und Freunde ein. Übrig bleiben bei den meisten drei bis vier leere Felder. Dann der Knackpunkt: „Davon nehmen wir jetzt mal 1.500, 2.000 Euro weg fürs Handy“. Die durchschnittliche Bildschirmzeit der Workshop-Teilnehmer liegt bei sechseinhalb Stunden, circa 1.800 Euro vom monatlichen Netto-Einkommen im Übungsbeispiel. Was vorher abstrakt klang, liegt nun ausgemalt auf dem Tisch: Ein voller Kreis, dann ein Viertel davon für die Bildschirmzeit?
Diese Übung und weitere haben einen Zweck: Augen öffnen. Die Teilnehmenden sollen sich mit ihrem digitalen Konsum kritisch auseinandersetzen. Viele stellen fest, dass zwischen Lernen, Arbeit, Sport und sozialen Kontakten eigentlich kein Platz für so viel Online-Zeit bleibt.
Das Detox
Unser Gehirn reagiert sensibel auf Reizveränderungen, erklärt Holsboer. Ständige Reize aktivieren das Belohnungssystem. „Dopamin ist unser Suchtmechanismus.“ Je häufiger wir kurze, schnelle Reize konsumieren, desto schwerer fällt es uns, auf sie zu verzichten.
Dem wirken bewusste digitale Auszeiten entgegen. „Also man kann einfach Stopp sagen.“ Gemeint sind kleine Auszeiten im Alltag, um wieder auf ein Normalniveau zu kommen. Schon wenige Stunden offline verbessern den Schlaf, senken Unruhe und schaffen mentale Klarheit. Sie ermöglichen einen Raum für Selbstwahrnehmung, Ruhe und Erholung. „Viele merken erst dann, wie viel sie sich vorher zugemutet haben.“ Eine systematische Übersichtsarbeit der Universität Wuppertal mit 21 Studien zeigt allerdings ein gemischtes Bild – teils positive Effekte, teils keine oder sogar negative. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf.
Der Workshop endet, die Teilnehmenden schalten ihre Handys wieder ein. Displays leuchten auf, sie sind wieder erreichbar. Der Alltag kehrt zurück. Einer sagt leise in die Runde: „Ohne Handy war es echt gut, aber irgendwie auch komisch.“ Vielleicht ist es genau das: Ungewohnt, aber gut.
Podcast

Karim Abdel Hady
Der 25-Jährige Cognitive-Science-Student Karim war in der Reizspirale gefangen. Im Podcast schildert er, wie er zur Ruhe fand und nun achtsamer mit digitalen Medien umgeht.
Credit: Tobias Mack
Music Credit: Set Up Camp Here (Main), Levi Fields, BMG Production Music
Glossar - Die wichtigsten Begriffe
Detox
Detox (Kurzform von Detoxification, engl. für „Entgiftung“) bezeichnet ursprünglich den medizinischen Prozess der Ausleitung von Schadstoffen aus dem Körper, etwa bei Drogen- oder Alkoholvergiftungen. In der Alltagssprache meint „Detox“ heute meist eine bewusste Phase der Reinigung, etwa durch den Verzicht auf ungesunde Lebensmittel, digitale Medien oder belastende Gewohnheiten, um Körper und Geist zu entlasten.
Dopamin
Dopamin ist ein Botenstoff (Neurotransmitter) im Gehirn, der eine zentrale Rolle im Belohnungssystem spielt. Es wird ausgeschüttet, wenn wir etwas Angenehmes erleben. Zum Beispiel beim Essen, Lachen, Verliebtsein oder durch digitale Reize wie Likes, Nachrichten oder Videos. Dopamin motiviert uns, bestimmte Handlungen zu wiederholen, weil sie als „belohnend“ empfunden werden.
Neuroplastizität
Neuroplastizität bezeichnet die Fähigkeit des Gehirns, sich lebenslang zu verändern und anzupassen. Das bedeutet: Nervenzellen (Neuronen) können neue Verbindungen aufbauen, bestehende stärken oder schwächen – je nachdem, wie wir unser Gehirn nutzen. Lernen, Gewohnheiten, aber auch Stress oder Medienkonsum beeinflussen diese neuronalen Strukturen.
Transparenzhinweis: Der Workshop wurde eigens für uns abgehalten.
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