"Wir geben Menschen eine Familie"
Jay Miniano arbeitet seit 2018 als Dragqueen und engagiert sich in der queeren Szene in und um München. Auf den Philippinen geboren, zieht es Jay 2016 in die bayerische Landeshauptstadt, wo er 2017 zum ersten Mal Dragqueens auf dem Christopher Street Day entdeckt. Diese Kunstform hat ihn seitdem nicht mehr losgelassen. Mittlerweile zählt er zu einer der bekanntesten Dragqueens Münchens. Er gibt Workshops rund um das Thema Make-Up und gestaltet selbst Perücken. Bei den Auftritten ist er aber nicht Jay, sondern Pinay. Pinay Colada ist das Pseudonym für seine Kunstfigur. Auf der Bühne zeigt sie sich in bunten Farben und aufwändigen Kostümen.
Pinay Colada will am Abend mit ihrer Performance auf der Bühne im „Lost Weekend“ in München auftreten. Der Auftritt ist der Auftakt für das anstehende Lip-Sync-Battle, ein Wettbewerb bei dem zu einem Lied getanzt und die Lippen bewegt werden. Verschiedenste Künstlerinnen und Künstler treten dort auf, darunter sind nicht nur Dragqueens. Auch andere Kunstformen sind an dem Abend auf der Bühne zu sehen. Doch bevor sie in ein paar Stunden auf die Bühne steigt, gibt es für sie noch viel zu tun.
„Ich arbeite lieber unter Zeitdruck. Ich habe festgestellt, dass mein Make-Up mit mehr Zeit nicht besser wird. Nach drei Stunden ist es dann auch gut“, sagt Miniano. Zu Beginn dauert es oftmals länger. „Übung macht den Meister, wie in vielen anderen Bereichen. Ich habe mittlerweile meine Handgriffe und weiß, was ich mache. Es entwickelt sich eine Routine.“
Minianos Schminktisch ist vollgestellt mit Spiegeln und Make-Up. Denn nicht nur er bereitet sich heute auf eine Show vor, auch drei Freundinnen sind zu Besuch für die Veranstaltung in der Münchner Location.
Feeby Fergison und Giselle Hipps kommen beide aus Frankfurt. „Ich habe die beiden damals als Feeby und Giselle kennengelernt. Es fühlt sich komisch an, sich mit dem bürgerlichen Vornamen anzusprechen“, sagt Miniano. Auch er ist in der Runde aus Queens nicht Jay, sondern Pinay.
Donna D Love ist die „Tochter“ von Pinay. Als „Tochter“ bezeichnen die Queens in der Szene Menschen, die neu in dieser Kunstform sind und die sie als Mentoren zu Beginn ihrer Karriere begleiten. Sie bereitet sich heute auf ihren ersten Auftritt vor. „Ich trete heute bei dem Lip-Sync-Battle an. Ein wenig nervös bin ich schon. Es ist gut, die Menschen um mich rum zu haben, die mir beim Make-Up und beim Outfit helfen“, sagt Donna.
„Wir geben Menschen eine Familie. Eine Freundin wurde von ihrer Familie nach ihrem Outing verstoßen. Sie kam zu uns und wurde aufgefangen. Bei uns darf jeder so sein, wie er möchte“, erzählen Miniano und Giselle. „Die Dragqueen-Szene hier in München ist kleiner als beispielsweise in Berlin. Das ist aber gut so. In Berlin nehmen sich die Queens mittlerweile gegenseitig die Jobs weg. In München ist noch Platz für neue Menschen, die sich in der Szene ausprobieren wollen“, sagt Miniano.
Mit der Serie "Drag Race Germany", als deutscher Ableger des amerikanischen Vorbilds "RuPaul's Drag Race", ist die Dragqueen-Szene im September 2023 deutschlandweit in die breite Öffentlichkeit getreten. Hierbei konkurrieren die Queens in Lip-Sync-Battles miteinander. Neben Kostümen und der Performance sind die Perücken ein wichtiges Element bei dieser Kunstform.
Neben seinen Dragqueen-Auftritten haben die Perücken auch für Miniano einen hohen Stellenwert. „Das ist eine Kundenarbeit“, sagt Miniano über die auf dem Tisch stehende Perücke. „Die Steine sind mit der Hand aufgesetzt. Das ist eine meditative Arbeit. Jedes Mal wundert sich mein Mann, dass ich dabei so ruhig bleiben kann“, erzählt Miniano über den kreativen, aber auch handwerklich fordernden Arbeitsprozess.
„'Witchdoctor' ist ja ein Begriff für Menschen, die sich mit ritueller Medizin um kranke Personen kümmern. Deshalb bezeichne ich mein Handwerk als 'Wigdoctor'“, scherzt Miniano über seinen Künstlernamen. Er hat sich auf die Wiederaufbereitung alter, gebrauchter Perücken spezialisiert. „Jeder braucht so seine Nische auf dem Markt. Neue Perücken werden schon von vielen designend. Meine Arbeit hat auch etwas Nachhaltiges.“
Der erste Arbeitsschritt ist das Auskämmen der künstlichen Haare. „Das ist ein klassischer Beach-Cut. Der Kunde möchte aber eine Hollywood-Wave für sein Kostüm“, sagt Miniano. Auch bei dieser Perücke handelt es sich um ein bereits gebrauchtes Exemplar.
„Ich mache zu jeder neuen Perücke eine Zeichnung, an der ich mich während der Arbeit orientiere“, erklärt Miniano. Die Perücke wird mit Lockenwicklern vorbereitet und später mit einem Dampfbügeleisen bedampft.
Miniano stülpt über die Perücke eine Plastiktüte, als improvisierte Dauerwellenhaube. „Darf es noch ein Kaffee sein?“, sagt er scherzend, als würde sich unter dem Eigenbau tatsächlich eine ältere Dame befinden – so wie in einem echten Friseursalon. „Das muss jetzt für zehn Minuten unter der Tüte bleiben, damit die Locken halten.“
Während der Wartezeit holt ein Kunde seine Perücken ab. Er ist begeistert. „Sie sind so schön geworden“, sagt er über Minianos fertige Arbeiten. Die Perücken können von wenigen Euro bis in den unteren vierstelligen Bereich kosten.
„Das Küchentuch ist praktisch. Ich kann es zum Ziehen meiner Kontur nutzen und danach direkt meine Finger abwischen“, sagt Miniano über seinen kleinen Trick. „Viele aus der Szene nutzen dafür eine Schablone oder ein Stück Karton. Für mich war das Küchentuch einfach praktischer.“
„Es ist ein Prozess. Meine Persönlichkeit wird peu à peu von Jay zu Pinay. Aber mit dem Aufsetzen der Perücke und den Wimpern werde ich dann wirklich zu ihr. Das ist der finale Schritt“, sagt er über die Verwandlung zu seiner Kunstfigur Pinay Colada.
„Das Strenge ist ihre Art. Sie ist dann richtig sassy, wenn sie zu Feeby wird“, sagt Pinay über ihre Freundin. Jede Queen hat ihren eigenen Stil in ihrer Kunstfigur. Das geht vom Make-Up über das Kostüm bis hin zu der Art der Perfomance auf der Bühne.
„Queens, das Taxi kommt in fünf Minuten“, ruft Pinay durch ihre Wohnung. „Ich fahre ungern mit den Öffentlichen zu Gigs. Mein Mann mag es auch nicht, wenn ich mit der Bahn fahre. Es gibt zu viele Anfeindungen“, sagt Pinay. Das Thema "Dragqueens" sei in der Gesellschaft immer noch polarisierend.
Das „Lost Weekend“ ist an diesem Abend gut besucht. Die Stimmung ist vergnügt, das bunte Publikum unterhält sich, einige Queens sind bereits auf der Bühne und posieren, während Fotos von ihnen gemacht werden. Pinay Colada überprüft, ob ihre langen, rosa Glitzer-Fingernägel noch da sind, wo sie sein sollen. Dann steigt auch sie auf die Bühne.
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