Gesellschaft

Zwischen Migration und „Deutschsein“

Patrick Kronjäger
Ramazan Öztürk
Lesezeit 6 Minuten
Lehrer steht vor der Tafel im Portrait

Bünyamin Dilik, Lehrkraft für Deutsch als Zweitsprache an einer Grundschule.

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Patrick Kronjäger

Hier geboren und aufgewachsen und trotzdem auf der Suche nach Zugehörigkeit. Wann sind Menschen mit Migrationshintergrund wirklich angekommen?
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Stiller Klassenraum

Lautes Rufen von spielenden Kindern auf dem Schulhof dringt durch die geschlossenen Fenster nach drinnen. Doch im Klassenraum ist es still. Die Stühle sind hochgestellt und die Tafel vollgeschrieben. Nur einer sitzt noch im Raum und arbeitet. Bünyamin Dilik, Lehrkraft an einer Grundschule im Märkischen Kreis in Nordrhein-Westfalen. Er kontrolliert Aufgaben der letzten Stunde. Zurzeit unterrichtet er neben seinem Bachelorstudium Deutsch als Zweitsprache, kurz DaZ. Er selbst ist ein Kind von türkischen Migranten, hier geboren und aufgewachsen. Trotzdem musste er in seinem Leben einige Diskriminierungserfahrungen machen.

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Lehrer am Teste korrigieren

Nach dem Unterricht kontrolliert Bünyamin Dilik die Aufgaben der Schüler.

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Frühe Verantwortung

„Sind wir anders oder sind die Menschen, die so denken, anders?“, fragt sich der 22-Jährige. Seine Geschichte ist eine von vielen in Deutschland, wo laut Statistischem Bundesamt rund jeder Vierte einen Migrationshintergrund hat. Doch trotz dieser Vielfalt bleibt die Suche nach Identität und Zugehörigkeit oft ein Spannungsfeld zwischen „Deutschsein“ und kulturellen Wurzeln.

Bünyamin wuchs in einer multikulturellen Siedlung auf. Dennoch erlebte er schon als kleiner Junge mit, wie seine Mutter sich abfällige Kommentare anhören musste, wenn sie einkaufen gingen. Denn sie trug ein Kopftuch.

Schon früh musste er Verantwortung in seiner Familie übernehmen. Er erinnert sich daran,, dass er Behördenbriefe für seinen Vater übersetzen musste: „Ein acht- bis neunjähriges Kind, das in Deutschland heranwächst, muss so etwas normalerweise nicht machen." Er fragt sich: „Ich spreche einwandfrei Deutsch, inwiefern bin ich da nicht integriert?“

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Migrationsexperte erklärt

Philip Anderson erklärt den Identitätskonflikt von Kindern mit Migrationshintergrund.

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Phase des Formens

Philip Anderson, Migrationsforscher und Professor für interkulturelle soziale Arbeit, erläutert, wie tiefgreifend Identitätskonflikte junge Menschen prägen können. Durch Diskriminierungserfahrungen „wird das Selbstwertgefühl sehr stark unterminiert“, erst recht in der „Phase des Formens“. Die Statistiken zeigen die Ausmaße des Problems: 43 Prozent aller Beratungsanfragen an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes erfolgten 2024 aufgrund von ethnischer Herkunft, Rassismus und Antisemitismus. Gerade bei Jugendlichen habe dies eine prägende Auswirkung auf die Persönlichkeit und den späteren Charakter, so Anderson. 

„Wenn du rüberfliegst in die Türkei, dann sagen die: ‚Ja, die Deutschen sind gekommen‘, und wenn du wieder zurück nach Deutschland fliegst, sagen die: ‚Ja, die Türken sind wieder zurück.‘“, erzählt Bünyamin. „Wo gehören wir denn eigentlich hin?“

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Lehrer schreibt auf Whiteboard

Bünyamin Dilik erklärt die deutschen Artikel.

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Bildung als Schlüssel

Die Herausforderungen spiegeln sich auch in der Bildung wider. Laut dem Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen erreichten 2022 in Deutschland nur rund 13 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund die Hochschulreife, verglichen mit etwa 38 Prozent ihrer Altersgenossen ohne Migrationshintergrund. Philip Anderson hat eine mögliche Begründung dafür: „Die Belastungen führen dazu, dass die Kinder auffällig werden.“ „Auch auffällig, indem sie sich nicht anpassen lassen in der Schule, gewalttätig werden, die schwierigen Schüler werden.“ 

Bünyamin sieht Bildung als zentralen Faktor für die Integration. Er betont, wie wichtig Sprachförderung und die Stärkung des Selbstwertgefühls bei Kindern sind. Philip Andersson ergänzt, dass frühe Sprachstandstests und gezielte Förderungsmaßnahmen schon im Kindergarten entscheidend sind. Tatsächlich zeigte das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen 2022 in einer Studie, dass nur 45 Prozent der Kinder, die zu Hause eine andere Sprache sprechen, in der vierten Klasse gute Ergebnisse in Deutsch erzielen.

Heute will er durch seine Arbeit in der Schule und sein Engagement als Kandidat für den Stadtrat Kindern mit ähnlichem Hintergrund helfen. Er weiß, wie wichtig Vorbilder sind. Er erzählt, wie seine Lehrerin sich die Zeit nahm, ihm alle politischen Parteien zu zeigen und zu erklären, da er schon als Kind politisch interessiert war. Doch er hat auch Zweifel: „Ich mache Integrationsarbeit an einer deutschen Schule und frage mich trotzdem: Wie viel müssen wir uns noch anpassen, um akzeptiert zu werden?“

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Experte im Interview

Philip Anderson spricht über kulturelle Schwierigkeiten.

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Politisches Engagement

Anderson und Bünyamin sind sich einig, dass die Gesellschaft noch an sich arbeiten muss. Bünyamin setzt sich dafür ein, dass Lehrpläne diverser werden und mehr Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund an den Schulen vertreten sind. Er will ein Vorbild für die nächste Generation sein. Auch wenn er diskriminierende Erfahrungen gemacht hat, als er zum Stadtrat kandidierte. Unter Bildern im Internet gab es Hasskommentare. „Meine Frau, die trägt ein Kopftuch, die wurde auch angegriffen, vor allem bei dem letzten Artikel über mich.“ 

Philip Anderson hebt hervor, wie wichtig eine offene Gesellschaft ist. „Migration ist keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung, wenn sie richtig begleitet wird.“ Gleichzeitig zeigt der demografische Wandel, dass Zuwanderung nicht nur eine gesellschaftliche, sondern auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit ist.

 

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