Gesellschaft

Lehren aus der Tragödie

Paul-Moritz Friedrich
Iris Wald
Michele Scapicchio
Lesezeit 10 Minuten
Seitenleitwerk der Tupolev
Seitenleitwerk der Tupolew Tu-154
Credit: Paul-Moritz Friedrich
Die Nervosität beim Start eines Flugzeugs kennen wohl alle, die einmal mit dem Flugzeug verreist sind: die Angst vor einem Unfall in schwindelerregender Höhe und vor einem Absturz. Doch Kontrollmechanismen und eine detaillierte Auswertung von vergangenen Unglücken sorgen dafür, das Fliegen noch sicherer wird.
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Es ist der 1. Juli 2002. Der Himmel ist klar über der deutschen Stadt Überlingen. Die Einwohner schlafen, ahnungslos, dass sich ein schicksalhafter Augenblick zusammenbraut. Kurz vor Mitternacht nimmt eine schreckliche Tragödie ihren Lauf. In der Dunkelheit durchschneidet das Dröhnen von Triebwerken die Stille. Eine russische Tupolew, auf dem Weg von Moskau nach Barcelona, durchquert den Luftraum über Überlingen. Gleichzeitig nähert sich aus entgegengesetzter Richtung eine DHL-Boeing 757 auf ihrem Weg von Bergamo nach Brüssel. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches, doch die Flugzeuge bewegen sich auf Kollisionskurs, aufeinander zu. 

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Wrackteile in der Untersuchungshalle der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU)
Wrackteile in der Untersuchungshalle der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU)
Credit: Michele Scapicchio

Die Lichter beider Maschinen durchzogen den Nachthimmel, als ob sie eine unsichtbare Verbindung hätten. Die Besatzungen ahnten nichts. In dem furchtbaren Moment, als die Tupolew und die Boeing 757 aufeinander prallten, erbebte der Himmel. Metall zersplitterte, Flammen umgaben die herabtrudelnden Flugzeughüllen, und die Nachtruhe Überlingens wurde vom Klang der zerberstenden Flugzeuge durchbrochen.

Während sich Überlingen von diesem Ereignis erholte, begann die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) ihre Arbeit. Die BFU ist eine Institution mit der Aufgabe, die Ursachen von Flugunfällen aufzuklären. Bei jedem Flugzeugabsturz bemüht sich die BFU anhand von Berichten, Analysen und Befragungen die Puzzleteile von Unfällen wie diesen zusammenzusetzen. "Hierzu gilt es vor allem den Cockpit Voice Recorder (CVR) und den Flight Data Recorder (FDR) zu finden, welcher alle wichtigen Daten des Flugzeuges aufzeichnet", so Germout Freitag, der Leiter der Pressestelle der Bundesstelle für Unfalluntersuchung. Diese speichern unter anderem die Kommunikation der Piloten im Cockpit, Höhe und Geschwindigkeit der Maschine, Anzeigen im Cockpit und viele weitere Daten auf. "Das Team aus Experten und Ermittlern wird zu einem entscheidenden Faktor, um die Ursachen zu verstehen und daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen", berichtet Freitag. Hierfür veröffentlicht die BFU ihren jährlichen Bericht sowie alle abgeschlossenen Statistiken und daraus resultierenden Sicherheitsempfehlungen.

Im Zeitraum von 2008 bis 2022 verzeichnet die BFU 64 Flugunfälle im deutschen Luftraum mit Luftfahrzeugen der gewerblichen Luftfahrt ab 5,7 Tonnen, also Fracht- und Passagiermaschinen. In den Jahren 2010 und 2013 registrierte die BFU vergleichsweise niedrige Unfallzahlen, dadurch sticht besonders 2012 mit einer erhöhten Anzahl hervor. In den drei Jahren von 2020 bis 2022 erfasste man hingegen eine insgesamt niedrigere Unfallquote. Der Durchschnitt über den gesamten Zeitraum liegt bei etwa 4,2 Unfällen pro Jahr. Diese Daten weisen auf Schwankungen hin, ohne dass ein klar erkennbarer Aufwärts- oder Abwärtstrend festgestellt werden kann.

Im Lotsen-Kontrollraum überwachte der Fluglotse die Annäherung der russischen Tupolew und der DHL-Boeing 757. Seine Flugsicherungssysteme wurden durch Wartungsarbeiten außer Kraft gesetzt, darunter das bodengestützte Kollisionswarnsystem (Short Term Conflict Alert - STCA), das normalerweise 32 Sekunden vor der Kollision eine Warnung ausgesendet hätte. Gleichzeitig versagten die Telefondirektleitungen zu anderen Luftüberwachungszentren, während der Lotse durch den Ausfall des Ersatzsystems und unerwiderte Anrufe des Upper Area Control Center (UACC) Karlsruhe abgelenkt war. In den letzten Sekunden vor der Katastrophe erhielten die Flugzeugbesatzungen widersprüchliche Anweisungen vom Traffic Alert and Collision Avoidance System (TCAS) und dem Lotsen, wobei die mangelnde Klarheit in den Luftverkehrsregelungen möglicherweise zur Nichtbeachtung der TCAS-Anweisung durch die russische Besatzung beitrug.

Die nachstehenden Grafiken illustrieren die Anzahl der Flugunfälle mit schwer und tödlich Verletzten in den Jahren 2008 bis 2022. Bei den Unfällen mit Schwerverletzten zeigt sich eine gewisse Variation, wobei die Jahre 2011, 2013 und 2015 mit jeweils drei Vorfällen die höchsten Werte verzeichnen. 

Bei den Unfällen mit tödlich Verletzten gibt es jedoch eine deutliche Schwankung. Besonders auffällig sind die Jahre 2012 und 2014, in denen jeweils fünf tödlich Verletzte zu verzeichnen waren. Erwähnenswert ist, dass es in den Jahren 2020 bis 2022 keine tödlichen Verletzten in Flugunfällen gab.

An jenem Abend wurden 71 Menschen, darunter die 52 besten Schüler Russlands, aus dem Leben gerissen. Überlingen verwandelte sich in einen Schauplatz des Schreckens.

Die BFU stellte sicher, dass aus dem Unglück von Überlingen Erkenntnisse gewonnen wurden. Diese helfen zu verhindern, dass solch eine Tragödie nie wieder passiert. Die Sicherheitsempfehlungen der BFU sind sehr umfangreich. Unter anderem beinhalten die Neuerungen, dass "Fluglotsen in der Nacht nicht mehr alleine arbeiten dürfen. Sondern es gilt das Vier-Augen-Prinzip", schildert Freitag. Diese Empfehlung zielt darauf ab, die Qualität der Arbeit der Lotsen zu verbessern. Insbesondere während der Nacht sind eine verlässliche Überwachung und Kommunikation besonders wichtig. Des Weiteren wurde eine "Umorganisation der Ausbildung in dem Ostblock [ehemals UdSSR, DDR, Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien - A.d.R.] vollzogen. Es gilt nicht mehr Mensch vor Maschine, sondern Maschine vor Mensch." Unter Maschine vor Mensch versteht man, dass die Entscheidung der Maschine Vorrang hat.

Überlingen wurde zu einem Mahnmal, nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Fortschritte in der Luftfahrtsicherheit. Denn durch die Auswertung solcher tragischen Unglücke können zukünftige Unfälle vermieden werden: "Solche Zusammenstöße sind in der Verkehrsfliegerei nicht mehr vorgekommen", so Freitag.

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Eine kurze Geschichte der Luftfahrt

Die Geschichte der Luftfahrt geht über 100 Jahre zurück. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wagten sich die Gebrüder Lilienthal in die Lüfte, entwickelten die ersten Flugzeuge und legten den Grundstein für eine neue Art des Transports. „Die Luftfahrt hat unsere Welt grundlegend verändert“, so Freitag. Diese Fortschritte brachten uns in eine Welt, in der das Fliegen zu einem unverzichtbaren Bestandteil unseres modernen Lebens wurde.

Ein Artikel von

Paul-Moritz Friedrich
Iris Wald
Michele Scapicchio