Gesellschaft

Im Einklang mit sich selbst

Matthias Lee
Marian Tänzer
Lesezeit 10 Minuten
Bauer auf FEld
Credit: Matthias Lee
Mensch. Tier. Autarkie – im Einklang mit sich selbst. Ganz im Norden Deutschlands liegt ein kleiner Fleck Land, an dem 250 Menschen von überall aus der Welt ein Leben der etwas anderen Art führen. Ein Einblick in einen eigenen kleinen Kosmos, den sie ihr Zuhause nennen.
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Kühe muhen, Schafe blöken. Heugabeln schleifen über die gefrorene Erde. Das Ortsschild verrät, hier ist Sammatz – ein kleiner Ort ganz im Norden von Deutschland, nahe der Elbe bei Lüneburg. „Bom dia!“, „Good morning!“, begrüßen sich gähnend und mit halb geschlossen Augen Gabriella und Valentin. Er kommt vom Bodensee, sie aus Brasilien. Ganz normal hier am Michaelshof. Ein kleiner Fleck Land, den mittlerweile circa 250 Menschen von überall aus der Welt ihr Zuhause nennen. Eigentlich ist es mehr ein Dorf als ein landwirtschaftlicher Betrieb. Der Michaelshof entstand 1985 aus der Idee, eine Gemeinschaft auf dem Land zu Gründen. Mensch. Tier. Autarkie. In vielerlei Hinsicht sollte hier ein Modell für ökologisch-soziales Zusammenleben entstehen.

Direkt hinter dem Ortsschild befindet sich der Kindergarten. Auf einem bogenförmigen Torschild steht in allerlei Farben „Kunterbunt“ geschrieben. Folgt man dem kleinen Linksknick der Straße bis zum Herzen des Hofes, findet man das vielbesuchte Café. Eine kleine Bibliothek mit Sitzecken und das „Mainhouse“, was einen großen Speisesaal und Besprechungsräume beherbergt, reihen sich gleich nebenan.

Etwas abseits vom Zentrum gelegen befindet sich der "Archehof", wo Valentin und Gabriella heute ihren Arbeitstag beginnen. Kühe strecken ihren Kopf durch die Gitter des großzügigen Stalls - jetzt gibt es Fressen. Frisches Heu und Kartoffeln: „Das haben sich die Tiere verdient“, sagt Valentin. Um sechs Uhr wird gemolken. Danach ausgemistet und gefüttert.

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Kühe füttern

Die Tiere und Pflanzen müssen auch am Wochenende versorgt werden. Wenn mal nicht um 5 Uhr gefüttert wird, arbeiten die Volunteers im Garten, Café, Hofladen, Meierei oder der Bäckerei.

Credit: Matthias Lee

Er begann als einer von vielen Volunteers. Das sind freiwillige Helfer. Pro Jahr unterstützen den Hof ca. 500 von ihnen. „Ich wollte eigentlich nur ein paar Wochen bleiben, jetzt bin ich schon zwei Jahre hier“, erzählt Gabriella auf Deutsch mit südamerikanischem Akzent. Und so geht es hier Vielen, die durch die Liebe zur Natur miteinander verbunden sind.

 

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Nicolas und Gabriela im Cafe

Das Café. Für Nicolás (27) und Gabriella (20) die perfekte Möglichkeit, um bei Gesprächen mit den Gästen Deutsch zu lernen.

Credit: Matthias Lee

Die Umwelt steht hier im Fokus: „Wir betreiben nachhaltigen, biologisch-dynamischen Landbau. Bei uns kommt kein künstlicher Dünger zum Einsatz. Wir bauen eigenen Weizen an und benutzen weder auf dem Feld noch in unseren Gewächshäusern Pestizide“, erzählt Anton Ginther, während er mit zwei Fingern nach seinem Teebeutel im dampfenden Wasser greift. Auch, wenn man Anton als Allrounder bezeichnen könnte, ist sein liebster Arbeitsplatz der Garten. „Das ist eine grobe Mischung. Ich teste gerade eine Eigenkreation aus einigen Heilkräutern, die wir hier anbauen“, erzählt der 35-jährige, der von Kindesalter an in Sammatz lebt. Alle kennen ihn hier und Anton kennt alles und jeden. Die ersten Häuser, Straßen, die aufgerissen wurden, um Leitungen für Strom, Wasser und Wärme zu verlegen. Vom Gestalten der Gärten, dem Anlegen des Waldsees, über eine nachhaltige landwirtschaftliche Nutzung. „Wir haben das alles selber geplant und gemacht“, erklärt Ginther, während er einem verirrten Vogel hilft, aus dem Gewächshaus zu finden.

 

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Anton mit Kaffeetasse

Anton Ginther (35). Gründete in Australien bereits eine Gartenbaufirma und investierte in Crypto-Währung. Am Ende spendete er alles dem Michaelshof.

Credit: Matthias Lee

 

 

Was viele erstmal nicht sehen: Die Schönheit ist aus Schmerz geboren. Aus Einsatz, aus Leidenschaft.“ Während der 35-jährige zu erklären beginnt, klingelt sein Smartphone: „Das ist ja erst das siebte oder achte Mal. Und heute geht’s noch“, schiebt er lachend ein, als die Hand in eine seiner vielen Engelbert Strauss-Hosentaschen zwischen Gartenschere und Schraubendreher gleitet. „Man darf nicht vergessen, dass ein Großteil der Menschen hier ungelernt ist“.

 

 

Das Leben findet aber nicht nur im Freien statt. Ein Blick in die privaten vier Wände zeigt die Sammatzer ausnahmsweise ohne Arbeitsgerät. „Papaaaa!“ Eine kleine Hand greift nach dem Hosenbein, während versucht wird, dem Sohn die Schuhe zu binden – Ziel: Weihnachtsmarkt. Die Spülmaschine läuft. Vor ihr fehlt ein kleines Stück Holzdiele. Schaut man an der Küchenzeile vorbei, erblickt man ein rotes Sofa mit bunten Kissen. Auf dem Couchtisch stehen die Überbleibsel eines hastig eingeschobenen Mittagessens. Er selbst hat jetzt Feierabend von einem Seminar zum Obstbaum-Schnitt: „Das Konzept der ständigen Erreichbarkeit ist einerseits praktisch. Andererseits ist an einem Ort leben und arbeiten nicht immer leicht“, erklärt Leo Reese. Der junge Vater ist vor drei Jahren zugezogen und hat hier seine Familie gegründet. Der gelernte Physiotherapeut lebt mit seiner Freundin und den zwei Kindern in einem eigenen Haus, gestellt vom Michaelshof: „Die Menschen die man liebt und seine Freunde immer um sich zu haben und so nah beieinander zu sein, ist wirklich schön. Aber es gibt immer was zu tun, also tut man auch immer was“, gibt Leo schulterzuckend zu. Nebenbei arbeitet der 28-jährige noch im Ökologie-Team und dokumentiert sich ansiedelnde Tier- und Pflanzenarten. Die Qualifikationen auf dem Papier sind in Sammatz zweitrangig, erzählt er.

 

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Das Blaue Haus

Das "Blaue Haus": Unterkunft und Wohnraum der Volunteers. Meistens hört man hier mehr Spanisch und Englisch als Deutsch.

Credit: Matthias Lee

Zusätzlich zu den Mitarbeitern besuchen den Michaelshof noch fünfzig- bis sechzigtausend Tagesgäste pro Jahr. Hinzu kommen Schüler und Studenten aus Partnerschaften mit der Universität Lüneburg und 60 Instituten deutschlandweit. Wo so viele Leute aufeinandertreffen, entstehen auch Konflikte. „Man findet hier viel über sich selbst heraus. Nicht allen fällt es leicht, die eigenen Bedürfnisse auch mal hintenanzustellen“, erklärt Anna Schilling. „Man versucht immer für die Mehrheit zu entscheiden und dabei nicht die lang geplanten Projekte aus den Augen zu verlieren. Man kann es nicht immer allen recht machen“. Gelegentlich kommt es deswegen vor, dass gerade Familien, aber auch Volunteers den Michaelshof wieder verlassen. Nach ihrem Studium in International Business entschied sich Anna dennoch ganz bewusst für ein Leben hier. Jetzt arbeitet sie im Presse- und Bauteam und ist Teil des 22-köpfigen Leitungsgremiums. Während sie im „Blauen Haus“, der Volunteer-Unterkunft, von ihrer Zeit auf dem Michaelshof erzählt, gestikuliert sie viel. Auf die Frage, ob Anna sich ein Leben woanders vorstellen könne, entgegnet sie nach kurzer Pause: „ungerne“ und lacht.  

 

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Im Garten
Credit: Matthias Lee

Die Teamleiter der einzelnen Projekte treffen sich wöchentlich und teilweise täglich. Die Ergebnisse werden primär über WhatsApp kommuniziert, was nicht immer reibungslos funktioniert. Einen fast autarken Hof mit 160 Hektar Fläche zu betreiben, „ist eine Mammutaufgabe“, gesteht Anna, während sie ausatmet und sich durch die Haare fährt. In Sammatz möchte man die Besucher mit dem Konzept „Schönheit und Nachhaltigkeit“ berühren und so eine Bewusstseins-Veränderung bewirken, sagt sie. Die rein wirtschaftliche Nutzung des Landes steht nicht an erster Stelle. Wenn der sammatzsche Idealismus auf die Realität von Inflation und Energiekrise trifft, müssen Abstriche gemacht werden. „Dessen ist sich hier jeder bewusst. Wir haben so viele Pläne und Ideen. Am Ende muss aber geschaut werden, was wir wirklich umsetzen können“. Zu den alltäglichen Aufgaben auf dem Hof kommen noch diverse Projekte hinzu. Konzerte im Sommer, die Planung eines Hotels und das Erforschen von Böden, Düngern und Nahrungsmitteln. „Und dann wäre da noch der Häuserbau“.

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Bulldog am Katzenberg

Durch den starken Zuwachs während der Pandemie wurde der Wohnraum knapp. Der „Katzenberg“, wie ihn die Kinder nennen - für die Einen Baustelle, für Andere bereits ein Zuhause.

Credit: Matthias Lee

Man hört das Kreischen einer Säge - Fliesen werden zurechtgeschnitten. Ein Schwerlader fährt piepend rückwärts: „Das Team hat in kurzer Zeit tolle Arbeit geleistet - vom Fundament über den Trockenbau bis hin zur Fassade“, erklärt Anton auf dem Weg zum „Flachsenberg“ - der größten Baustelle auf dem Michaelshof.     „Die Liebe zu der Sache, die Energie und die Leute sind nicht das Problem – die haben wir. Geld ist ganz klar der größte limitierende Faktor“, wirft er ein und zeigt auf die bereits 10 (fast) fertigen Häuser. Dass die Projekte und der Michaelshof deshalb zu kommerziell werden könnten, darüber macht sich hier keiner Sorgen. „Wenn es nach mir geht, könnten wir gar nicht schnell genug wachsen“, verabschiedet Anton sich, dessen Arbeitstag heute um 6 Uhr begann und wohl erst gegen 21 Uhr enden wird.

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Matthias Lee
Marian Tänzer