Gesellschaft

Heißt es WikipediA oder WikipediER?

Charleen Haß
Lisa Sonnenberg
Lara Franz
Lesezeit 3 Minuten
drei WikiMuc-Mitglieder, mit denen wir gesprochen haben
Frauen in der Überzahl? Das Bild täuscht.
Credit: Lara Franz
Männerdomäne Wikipedia: Bei WikiMuc hat man den Frauenmangel erkannt – und arbeitet aktiv an der Verringerung des Gender-Gaps.
Lesezeit 3 Minuten

19.15 Uhr an einem Freitagabend im April

Am Südrand der Münchener Altstadt, ganz in der Nähe des Marienplatzes, steht eine große Tür im Erdgeschoss eines Altbaus offen. Es ist der Eingang zum Wikipedia-Büro München. In dem schmalen Raum befinden sich ein großer Holztisch, sechs aneinander gereihte Computerbildschirme und ein Regal mit Brockhaus-Enzyklopädien. Kathrin Herwig sitzt allein am Rande des Holztisches. Lächelnd blickt die Grafikerin Richtung Tür. Als die Reporterinnen eintreten, blitzen ihre Augen hinter der großen Hornbrille auf, über die ihr braunes, lockiges Haar fällt.

Heute findet zum ersten Mal ein Frauenabend statt. Hier sollen sich Frauen der Wikipedia zum Reden treffen und neue dazustoßen. 2018 waren weltweit bei allen Projekten der Wikimedia Foundation rund neunzig Prozent der Beitragenden männlich und neun Prozent weiblich. Diese Zahlen stammen aus einer eigenen Untersuchung dieser gemeinnützigen Stiftung, die die Wikipedia und weitere Wiki-Plattformen betreibt. Neuere Zahlen sind nicht bekannt.

Es ist ein warmer Frühlingsabend. Die Tür steht den ganzen Abend offen. Draußen herrscht eine ausgelassene Stimmung, viele Menschen laufen an der Tür vorbei. Das Wikipedia-Banner mit der Aufschrift „Gemeinsam wissen wir mehr“ lockt niemanden hinein.

Anhand einer Mailingliste der Wikipedia München lässt sich zumindest eine ungefähre Verteilung der Geschlechter bestimmen. Von rund zwanzig Teilnehmenden an den „Offenen Abenden“, die jeden Mittwoch stattfinden, sind circa zwanzig Prozent Frauen. Damit liegt München ein wenig über den Statistiken von 2018. Doch das ist  den aktiven Frauen hier noch nicht genug.

 

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Eingang zum Münchener Wikipedia-Treff
Schaufenster zum Wissen. Eingang zum WikiMuc-Büro in der Angertorstraße.
Credit: Lara Franz

Nach 43 Minuten betritt Micha Senz mit einem „Halli hallöchen“ winkend den Raum. Nachdem die Hörgeräteakustikmeisterin Ihren Laptop ausgepackt hat, setzt sie sich ebenfalls an den Tisch. Mit ihrem blaulila gefärbten Haar fällt sie in dem sonst eintönigen Raum auf. Wie Kathrin ist sie eine der vier Frauen des zehnköpfigen Organisationsteams der Wikipedia München. 

Kathrin begann als Autorin bei der Wikipedia, weil sie Bekannte auf die geringe Frauenquote aufmerksam machten. Am Anfang editierte und bearbeitete Sie lediglich Artikel. Seit 2018 schreibt sie selbst welche.  2020 startete sie dann den Versuch, mehr Mitstreiterinnen zu finden. Allerdings kam es nie zu einem Frauenabend, so erzählt sie: „Das war der März, wo Corona losgegangen ist.“ Zwei Jahre später, im Januar 2022, haben sie und drei Mitstreiterinnen dann an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München den dreiteiligen Online-Workshop „Wiki und die starken Frauen“ angeboten. 14 Studentinnen haben sie dort die Grundlagen der Wikipedia Arbeit und des dazugehörigen Wikiversums vermittelt.

„Solche Workshops sollen in Zukunft Bestand haben. Frauen fühlen sich wohl dabei, untereinander ihre technischen Kenntnisse auszubauen“, so Kathrin. Denn eine Hemmschwelle, die genauso ungern übertreten wird wie die Tür zum Frauenabend, ist die Technik. „Beim gleichen Wissensstand sagt ein Mann immer, ich kenne mich total aus und die Frau sagt, ich habe überhaupt keine Ahnung von Technik“.

 

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Kathrin Herwig, ein Mitglied der WikiMuc
Kathrin Herwig. Für die Grafikerin ist Wikipedia zu einer "Sucht" geworden.
Credit: Charleen Blase

Hinzu kommen Männer mit Ihrem „ruppigerem und lauteren Ton“, die einem den Einstieg erschweren können.  „Ich glaube, es ist einfach so wie überall. Es sind einfach die Lauteren,“ erzählt Micha. Sie selbst ist über einen Ihrer Bekannten zur Wikipedia München gekommen. Sie betont jedoch, dass sie das Wikipedia-Büro damals nicht betreten hätte, hätte ihr Kathrin nicht durchs Fenster zugelächelt. „Mit alten weißen Männern habe ich in meinem Leben genug Ärger, da brauche ich mir nicht noch ein Hobby suchen, wo ich mit denen die ganze Zeit zu tun habe.“ Es seien eben diese Events: Frauenabend und Workshop, die Frauen in ihrem Können bestärken und Ihnen zeigen sollen, dass auch sie sich innerhalb einer männerdominierten Community zurechtfinden können, erläutert Micha.

 

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Michaela Senz, ein Mitglied der WikiMuc
Michaela Senz. Die 37-Jährige stieß während Corona zu WikiMuc dazu.
Credit: Charleen Blase

16.00 Uhr, ein paar Tage zuvor

Bei einem gemütlichen Italiener in Neubiberg treffen wir Patrick Fischer. Er ist Diplom-Ingenieur der Fachrichtung Chemie und seit 16 Jahren bei Wikipedia als Autor tätig. „Man braucht nicht das Interesse an Wikipedia, man braucht das Interesse an einem Hobby“, rät Fischer Anfängern. Mit überschlagenen Beinen sitzt der fast 50 -jährige, große schlanke Mann auf der Terrasse. Während er durch seine blaue Brille gegen die Sonne schaut, erklärt er, was er in seiner Zeit als Autor in der Wikipedia getan hat. „Gerade in der Corona-Pandemie hat der Frauenanteil zugenommen“, so Fischer. „In das System reinzukommen, ist für Mann wie für Frau schwer. Man muss sich an die ganzen Regeln gewöhnen und so nette Wikipedianer es auch gibt, Stinkstiefel gibt es immer. Onlinekommunikation ist miserabel, vieles kommt einem vor wie ein Schlag vor den Kopf, obwohl es nicht einmal böse gemeint ist.“

 

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Patrick Fischer, ein Mitglied der WikiMuc
Patrick Fischer. Er ist seit 16 Jahren bei Wikipedia München dabei.
Credit: Lara Franz

Neben dem wesentlich höheren Anteil an schreibenden Männern innerhalb der Community gibt es zudem mehr männliche Biografien. Von insgesamt rund 864.000 Biografien innerhalb der deutschsprachigen Wikipedia handeln circa 147.000 von Frauen. Das entspricht gerade mal einem Sechstel. Dies spiegelt sich auch in der Liste „Frauen in Rot“ wider. Eine Liste, die aus mehreren Tausenden Namen von Sportlerinnen, Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen besteht, über die es bislang keine deutschsprachigen Artikel gibt. Hier fand sich bis Ende Mai 2022  zum Beispiel noch die vielfach preisgekrönte spanische Journalistin und Schriftstellerin Rosa Montero.

Doch es tut sich etwas – auch dank solcher Workshops wie an der LMU oder sogenannter „Edit-a-Tons“ oder „WomenEdits“, wo gezielt Artikel über Frauen entstehen. Der Gap zwischen männlichen und weiblichen Biografien wird langsam kleiner. 2009 lag der Anteil der weiblichen Biografien in der deutschsprachigen Wikipedia noch bei 14,6 Prozent von insgesamt 250.000. Heute liegt er bei 17 Prozent. Klar ist für Kathrin und Micha, dass dies nicht der letzte Frauenabend sein soll. Auch wenn bisher nur kleine Erfolge zu vermerken sind, wollen Sie weiterhin am Ball bleiben. „Es kann auch sein, dass sich so etwas zieht, aber es ist ja schon allein wertvoll, wenn es so einen Abend gibt, wo man ein anderes Bild sieht, wenn man hineinschaut“.
 

21.25 Uhr

Es ist kühl geworden. Während bei der Wikipedia München weiter an Artikeln geschrieben wird, hat sich die Menschenmenge auf der Straße bereits aufgelöst. Hinter den Dächern der Münchener Altstadt geht die Sonne langsam unter und für das erste - aber nicht letzte Mal - schließt sich die Tür zum Frauenabend der Wikipedia München.

 

Podcast

Wieso schreibt eine Frau ehrenamtlich bei Wikipedia? Und was hat sie sonst für Hobbys? Antworten einer Autorin. Lara Franz hat sie befragt.

200 Sekunden mit Michaela Senz, einem Mitglied der WikiMuc
Audiodatei

Ein Artikel von

Charleen Haß
Lisa Sonnenberg
Lara Franz