Kommt die Wehrpflicht zurück?
Die Vertreter politischer Parteien erläutern Für und Wider.
Die Wehrpflicht in Deutschland ist seit ihrer Aussetzung 2011 heiß diskutiert. Die aktuellen Krisen und Kriege, vor allem der Ukraine-Krieg, haben im Jahr 2022 zur Zeitenwende geführt. Seitdem sorgt das Thema „Wiedereinführung der Wehrpflicht“ fast täglich für neue Schlagzeilen. Von sofort bis nie: Die Ansichten der Abgeordneten im Bundestag gehen weit auseinander. Für die Bundeswehr wäre das ein riesiger Umbruch.
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) teilte bei der Pressekonferenz zur Strukturreform der Streitkräfte am 4. April 2024 mit, dass bei den Plänen zur Umstrukturierung der Bundeswehr auch eine mögliche Wiedereinsetzung einer "wie auch immer gearteten Wehrdienstpflicht mitgedacht" worden sei. Pistorius erwartet bis Mitte April eine Realisierbarkeitsstudie seines Ministeriums zu unterschiedlichen Modellen, die daraufhin politisch breit diskutiert werden. Auch spricht sich eine knappe Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des Magazins Stern für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht aus.
Auf die Frage von Wilfried Oellers (CDU-/CSU-Fraktion) an die Bundesregierung während einer Diskussion im Bundestag am 8. Januar 2024, welche Modelle zur Einführung einer Wehrpflicht aktuell in der Bundesregierung geprüft werden, antwortete Staatssekretär Thomas Hitschler: „Es handelt sich hierbei um einen Diskussionsvorschlag des Bundesministers der Verteidigung.“ Weitere Überlegungen würden innerhalb der Bundesregierung derzeit nicht angestellt. Und doch brodelt es hinter den Kulissen. Und auch davor: Die Debatten zum Wehrdienst werden ständig mit neuen Argumenten angeheizt.
Für eine „stille Reserve von gedienten Staatsbürgern“ plädiert Philip Krämer. Er ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen tätig und Mitglied des Verteidigungsausschusses. Sowohl der russische Angriff auf die Ukraine als auch der Überfall von Hamas und Islamischer Jihad auf Israel hätten die Notwendigkeit dafür gezeigt. „Sei es, um schnell eine größere Zahl von bereits kundigen Wehrpflichtigen ziehen zu können, um auf Bedrohungen zu reagieren, andererseits um elementare Grundkenntnisse - beispielsweise Überlebensfähigkeit, Evakuierung und Erste Hilfe - in der breiten Bevölkerung vorhanden zu wissen.“ Co-Bundesvorsitzender Omid Nouripour sagte dagegen gegenüber der dpa: „Ich glaube nicht, dass die Wehrpflicht gebraucht wird.“
Ähnlich sieht es die FDP. Nils Gründer, Mitglied des Verteidigungsausschusses, sagt: „Die Wiedereinführung der Wehrpflicht weise ich in der aktuellen Situation zurück. Die Wehrpflicht ließe sich zum jetzigen Zeitpunkt kurz- bis mittelfristig nicht wiedereinführen, da das benötigte Personal, die notwendige Ausrüstung und die Unterbringungsmöglichkeiten nicht existieren - es fehlt also die Infrastruktur.“ Stattdessen fordert der FDP-Fraktionschef Christian Dürr zur Stärkung der Bundeswehr die Musterung der etwa 900.000 Bundeswehrreservisten. Von einer Wiedereinführung der Wehrpflicht hält auch er nichts.
Der SPD-Politiker Johannes Arlt, Mitglied im Verteidigungsausschuss steht dem Thema Wehrpflicht oder „Allgemeiner Gemeinschaftsdienst“ positiv gegenüber, wie er auf Anfrage mitteilt: „Aus verschiedensten Gründen würde nicht nur unsere Gesellschaft profitieren, sondern auch der Einzelne hätte die Chance zur Orientierung.“
Bei den Oppositionsparteien CDU/CSU und AfD plädieren die befragten Abgeordneten klar für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht. „Mein Standpunkt hat sich durch den Ukraine-Krieg gestärkt", sagt Markus Grübel, Mitglied des Verteidigungsausschusses für die CDU/CSU. „Die Wehrpflicht im alten Zustand zu reaktivieren, wird schwierig, auch weil die Infrastruktur (Kreiswehrersatzämter) nicht mehr besteht. Ich bin aber für eine Allgemeine Dienstpflicht, wo der Wehrdienst bei der Bundeswehr neben dem Dienst bei Blaulicht- oder anderen Hilfsorganisationen, oder auch im sozialen Bereich eine Option ist. Meine Ansicht stimmt mit der meiner Partei überein, sie ist auch für ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr.“
Übereinstimmend argumentiert auch Rüdiger Lucassen, Verteidigungspolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion: „Die Aussetzung der Wehrpflicht war ein schwerer Fehler, der die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Die Wehrpflicht sorgt für eine verlässliche Personalgewinnung der Bundeswehr, sie sichert ihre Aufwuchsfähigkeit und sorgt für eine solide Verankerung der Streitkräfte in Volk und Gesellschaft.“
Auch die Notwendigkeit einer neuen Form der Wehrpflicht wird als Aspekt angeführt. Jan Nolte, Mitglied des Verteidigungsausschusses für die AfD, erklärt: „Wir bräuchten eine Auswahlwehrpflicht. Also das schwedische Modell. Die herkömmliche Wehrpflicht mit gegebenenfalls hunderttausenden Rekruten würde die Bundeswehr überfordern und über den Bedarf weit hinausgehen.“
Bei der Frage nach einem passenden Modell für die Wehrpflicht sind sich die oben erwähnten Befürworter einig, dass es einer neuen Form der Wehrpflicht bedürfe. Sie betonen, dass die herkömmliche Wehrpflicht die Bundeswehr überfordern würde und moderne Ansätze notwendig seien. Zur Ausgestaltung gebe es unterschiedliche Ansichten. Dem schwedischen Modell können nahezu alle etwas abgewinnen.
Wehrdienst 2.0: Schweden als Vorbild
„Ein schwedisches Modell, bei dem erst mal alle gemustert und dann die besten ausgesucht werden, kann ich mir im Rahmen einer Allgemeinen Dienstpflicht gut vorstellen“, argumentiert Grübel von der CDU-/CSU-Fraktion. Ähnlich sieht es auch die AfD: „Es geht nicht darum, die ‚alte‘ Wehrpflicht 1 zu 1 wieder zu implementieren, sondern zeitgemäße Formen zu diskutieren. Eine Auswahl-Wehrpflicht nach schwedischem Vorbild mit Musterung ganzer Jahrgänge kann Ausgangspunkt der Überlegungen sein“, erklärt Lucassen.
Krämer (Bündnis 90/Die Grünen) stellt auf die Wichtigkeit der Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit ab. Eine breitere Betrachtung der gesellschaftlichen Verteidigung sei notwendig. Dies gehe über den reinen Dienst an der Waffe hinaus. „Wichtig erscheint mir der Hinweis, dass gesellschaftliche Gesamtverteidigung mehr umfasst als ‚nur‘ den Dienst an der Waffe. THW, Zivilschutz und medizinische Versorgung sind ebenfalls elementar für das Bestehen in Krisen- oder Verteidigungsfall.“
Zielvorgaben fehlen laut FDP
Gründer (FDP) bekräftigt den Standpunkt seiner Partei: „Die Ablehnung der Wiedereinsetzung der Wehrpflicht ist Beschlusslage meiner Partei. Für andere Modelle müsste zuerst definiert werden, ob sie die Personallage entschärfen sollen oder ob sie die Reserve stärken sollen. Die Instrumente für das Erreichen der jeweiligen Ziele unterscheiden sich. Ein grundsätzliches Pflichtjahr lehne ich jedoch allgemein ab.“
Für Alternativen zur Wehrpflicht äußern die politischen Parteien zahlreiche Ideen. Krämer (Bündnis 90/Die Grünen): „Die Bundeswehr als Arbeitgeber muss attraktiver gestaltet werden.“ Dazu gehören laut Krämer Maßnahmen wie die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Schaffung von Chancengleichheit im Dienst. Freiwilligenmodelle wie der Heimatschutz könnten dazu beitragen, die Bundeswehr für eine breitere Bevölkerungsschicht zugänglicher zu machen.
Des Weiteren schlägt Gründer (FDP) eine Vielzahl von Maßnahmen vor, um die Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber zu steigern. Dazu zählt er unter anderem eine höhere gesellschaftliche Anerkennung des Soldatenberufs, die Digitalisierung und Beschleunigung des Bewerbungsprozesses sowie eine verbesserte Familienfreundlichkeit und Flexibilität bei der Standortwahl. „Zudem spielen die finanzielle Kompensation im Wettbewerb mit der Privatwirtschaft und die Vollausstattung der Truppe in allen Bereichen eine Rolle.“
Aus Grübels Sicht (CDU-/CSU-Fraktion) sollte die Bundeswehr stärker anerkannt werden. Er verweist auf den Ukrainekrieg als Beispiel für die Wichtigkeit der Arbeit der Soldatinnen und Soldaten und die Möglichkeit für sie, kostenlos mit der Bahn zu fahren. Dies habe für mehr Sichtbarkeit in der Bevölkerung gesorgt und dadurch zu mehr Anerkennung beigetragen.
Lucassen (AfD) schlägt vor, mehr Gelöbnisse, Vereidigungen und Zapfenstreiche in der Öffentlichkeit durchzuführen. Des Weiteren wirbt er unter anderem für Jugendoffiziere an Schulen und Universitäten und eine Sicherheitswoche im Bundestag.
Krämer (Bündnis 90/Die Grünen) argumentiert, dass die aktuellen Rahmenbedingungen aufgrund fehlender Ressourcen und mangelnder Infrastruktur nicht für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht sprächen. Ähnlicher Auffassung ist auch Gründer (FDP): „Die Nachteile überwiegen meiner Meinung nach die Vorteile. Die Investitionen in eine neue Wehrpflicht sind besser in der Ausstattung und Versorgung der Soldatinnen und Soldaten angelegt. Ein Vorteil wären die Daten aus den Musterungen, die aber auch ohne eine Einführung der Wehrpflicht erfasst werden könnten.“
Grübel (CDU/CSU) verweist auf seine eigene Wehrdienstzeit. „Ich selbst habe Wehrdienst geleistet und viele Vorteile gesehen, besonders, dass Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten aufeinandertreffen, die sich sonst nie begegnen würden. Wir brauchen eine resiliente Gesellschaft, Menschen, die bereit sind, unsere Werte zu verteidigen“, fordert Grübel.
Vor- und Nachteile für die Bundesrepublik
Auch die bundeswehrerfahrenen AfD-Politiker Lucassen und Nolte sehen in der Wiedereinführung der Wehrpflicht enorme Vorteile für die Bundesrepublik, Gesellschaft und Bundeswehr: die personelle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, die Fähigkeit, auf Änderungen der Sicherheits- und Bedrohungslage flexibel zu reagieren und die gesellschaftliche Verankerung der Streitkräfte (Staatsbürger in Uniform). Nolte sieht die Wehrpflicht als Chance zur Nachwuchsgewinnung und zur Vermittlung wichtiger "soft skills".
Auf die Frage nach potenziellen Nachteilen sagt Krämer (Bündnis 90/Die Grünen), eine Wehrpflicht könne zu Wettbewerb zwischen Ausbildungsbetrieben und der Bundeswehr führen. Zudem könnten die ohnehin ausgedünnten Strukturen der Bundeswehr überlastet werden, während Diskussionen um Wehrgerechtigkeit zwischen „ausgesetzten Jahrgängen und Heranzuziehenden sowie zwischen Männern und Frauen“ entstehen könnten.
Ähnlich sieht es Gründer (FDP): „Nachteile der Wehrpflicht sind die hohen Kosten, die entstehende Personallücke auf dem zivilen Arbeitsmarkt, der substanzielle Eingriff in die Freiheit der jungen Menschen, die fehlende Infrastruktur und der kostspielige Aufbau dieser sowie der ungeklärte langfristige Nutzen der Maßnahme für das Personalproblem der Bundeswehr.“
„In Summe ein Gewinn und kein Nachteil“
Auch Unionspolitiker Grübel sieht Nachteile. „Die Dienst- bzw. Wehrpflichtigen stehen in der Zeit dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. Da der Zusammenhalt der Gesellschaft aber sehr wichtig ist und die Arbeit im Rahmen einer Dienst- bzw. Wehrpflicht große Bedeutung für unser Land hat, ist es in Summe ein Gewinn und kein Nachteil.“
Lucassen von der AfD sagt: „Ein Nachteil wäre der Punkt der Wehrungerechtigkeit; hier gilt aber eine Zielhierarchie: Verteidigungsbereite Streitkräfte vorzuhalten, ist Verfassungsauftrag (Artikel 87a) und damit höher zu bewerten als die individuelle Ungleichbehandlung, wenn nicht jeder zum Wehrdienst herangezogen wird. Denkbar wäre dabei ein Ersatzdienst beziehungsweise verpflichtender Gemeinschaftsdienst als Alternative. Höchste Priorität: Die Bundeswehr muss ihren Personalbedarf decken können.“
Ähnlich sieht es auch Parteikollege Nolte: „Die Debatte bezüglich der freien Entfaltung des Einzelnen käme dann auf. Sie hat selbstverständlich ihre Berechtigung. Ich glaube aber, dass die berechtigten Bedürfnisse des Staates, seine Bürger zu schützen, schwerer wiegen.“
Soldaten ohne deutsche Staatsbürgerschaft?
Verteidigungsminister Pistorius warf eine Diskussion auf, ob sich die Bundeswehr für Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit öffnen könnte. Gründer (FDP) sagt: „Ich bin grundsätzlich offen für die Öffnung der Bundeswehr für Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Dafür müssen allerdings klare Rahmenbedingungen wie beispielsweise die Festlegung der Arbeitssprache auf Deutsch definiert werden, und der perspektivische Weg zur Staatsbürgerschaft sollte eine Rolle spielen.“
Vergleichbar argumentiert auch Grünen-Politiker Krämer: „Es gibt viele Menschen, die seit ihrer Geburt - leider bislang auch ohne Staatsbürgerschaft - in Deutschland leben, die sich allerdings als Deutsche verstehen und dienen möchten. Der Dienst in der Bundeswehr könnte, ähnlich wie in den USA, ein beschleunigender und motivierender Faktor zur Erlangung der Staatsbürgerschaft werden.“
Zurückhaltender äußert sich Unionspolitiker Grübel. Er unterstreicht die Bedeutung von Fremdsprachenkenntnissen und Verfassungstreue für potenzielle ausländische Rekruten, sieht jedoch die deutsche Sprache nicht als größtes Hindernis.
„Innere Führung würde abgeschafft“
Die AfD-Politiker Lucassen und Nolte (AfD) sind dagegen. Lucassen: „Dieser Vorschlag ist strikt abzulehnen. Er würde die Innere Führung und das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform de facto abschaffen. Unsere Soldaten sind keine Söldner.“
Nolte sagt: „Im Verteidigungsfall müssten wir uns auf die Treue der Soldaten zu Deutschland verlassen können. Diese Treue muss für den Soldaten schwerer wiegen als der verständliche Instinkt, sich selbst und die Familie in Sicherheit zu bringen. Es gibt Staaten wie Frankreich und Großbritannien, in denen der Ansatz funktioniert (Fremdenlegion und Gurkhas, Anm. d.R.: nepalesische Soldaten im Dienst der British Army und der indischen Streitkräfte). Das sind aber historisch gewachsene Traditionen, die man nicht einfach kopieren kann. Alles in allem halte ich diese Lösung für wenig zielführend. Vorher müsste definitiv die Wehrpflicht eingeführt und andere Mittel der Personalbeschaffung ausgelotet werden. Auch der Ersatz von Personal durch Technik gehört dazu.“
Einführung in der aktuellen Legislatur?
Auf die Frage, ob eine Wiedereinführung der Wehrpflicht in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich sei, sagte Gründer: „Nein, da wir eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht als FDP-Bundestagsfraktion ablehnen." CDU-Politiker Grübel stellt klar, dass es an seiner Partei nicht scheitern würde. „Die Wehrpflicht, wie wir sie kannten, wird bestimmt nicht wieder eingeführt werden. Was eine Allgemeine Dienstpflicht angeht, gilt es, das Momentum zu nutzen. Ob das aber noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden wird, werden wir sehen. An der Unionsfraktion wird es nicht scheitern.“
Lucassen und Nolte von der AfD halten es für unrealistisch. „Eine Reaktivierung in dieser Legislaturperiode", so Lucassen", halte ich für unrealistisch; langfristig ist eine Wehrpflicht in zeitgemäßer Form unentbehrlich.“ Arlt (SPD) plädiert für einen Allgemeinen Gemeinschaftsdienst (AGD). Er beschäftigt sich mit verschiedenen Fragen, wie der Altersspanne. Er hinterfragt auch, ob ein Pflichtdienst dazu beitragen könnte, soziale Ungleichheiten zu verringern und den gesellschaftlichen Frieden zu sichern. Grünen-Politiker Krämer wollte sich zum aktuellen Stand der Debatte nicht äußern.
In den nächsten Tagen wird die Realisierbarkeitsstudie des Verteidigungsministeriums zu unterschiedlichen Modellen einer Wehr- und Dienstpflicht veröffentlicht. Für genügend Diskussionsstoff ist gesorgt.
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