Weinanbau in Deutschland: Zwischen Technik und Tradition
Die warme Mittagssonne lässt den orangefarbenen Lehmboden trocken und spröde erscheinen. Es ist zu warm für Mitte April. Eine leichte Brise lässt Hubert Gänz aufatmen, als er vor seinen Reben am Weinberg steht. “Uff!”, stöhnt er. Die Ärmel hochgekrempelt wischt sich der 63-jährige Winzer den Schweiß von der Stirn. In Gedanken versunken schaut er den steilen Hang hinauf. „Billige Wein verkaufe und arm heirate kann jeder“, sagt er ironisch. „Jeden Morgen gehe ich mit geschwellter Brust durch die Weinberge“, sagt er, als er sich vorbeugt, um die Blätter der jungen Reben auf seinem Weingut in Guldental, Rheinland-Pflalz zu begutachten. Doch so leicht ist es nicht.
Eines der größten Hindernisse für die deutschen Winzer ist der Nachwuchsmangel. Laut dem Statistikportal Statista ging in den letzten sechs Jahren, die Zahl der auszubildenden Winzer um 20 Prozent zurück. “Grad die junge Generation will nix mehr arbeite, aber viel Geld verdiene”, so Gänz. Unregelmäßige Arbeitszeiten bestimmen den Alltag von Winzern wie ihm. Steigende Temperaturen und extreme Wettererscheinungen machen auch vor einer Tradition, wie dem Weinbau keinen Halt. Ganz gleich, ob Sonne oder Regen, die Arbeit muss gemacht werden. „Wir haben ja auch keine Leute mehr die hier arbeiten wollen“, klagt Gänz.
Bei seiner täglichen Kontrollfahrt im Geländewagen fährt er die Weinberge ab. Das Wummern des Motors wird nur von Gänz tiefer Stimme übertönt: „Die Wurzeln der Reben wachsen bis zu 12 Meter tief. Nur so haben wir die Trockenheit überstanden, aber der Ackerbau hat sehr gelitten.“
Immer mehr steigende Temperaturen erfordern eine Anpassung der Rebsorten. Nicht jede Rebsorte überlebt die heißen Temperaturen, die mittlerweile in Deutschland vorherrschend sind. Deshalb stellt Gänz immer mehr auf Rebsorten aus südlichen Ländern, wie zum Beispiel dem Sauvignon Blanc, um. Die Tragweite dieser Entscheidung hat Einfluss auf die kommenden 30 Jahre und somit die Überlebensfähigkeit des Betriebes. Man spricht hier von einem Mehrgenerationenvertrag: „Die Reben, die ich heute anpflanze, bringen mir nichts mehr. Das ist alles für meinen Sohn“, so Gänz.
Die schmalen und steinigen Pfade zwischen den Weinfeldern schaukeln das Fahrzeug ordentlich durch. Die hohen Gräser und tiefhängenden Äste kratzen beim Vorbeifahren an Lack und Scheiben. „So, da sind wir“, sagt Gänz freudig, als er den Motor abschaltet und die Fahrertür öffnet. Vor ihm steht ein großes Gipfelkreuz, im Rücken die Weinreben. Er dreht sich um: „Fast jede zweite Flasche Wein, die wir trinken, kommt aus dem Ausland“, seufzt Gänz. Laut dem Statistischen Bundesamt und dem Bericht „Lage im weltweiten Weinbausektor 2021“ der International Organisation of Vine and Wine, vom April 2022, werden rund 150 Prozent mehr Wein importiert als in Deutschland produziert wird: „Die Leute sollen mal wieder wissen, wo die Sachen herkommen“, klagt Gänz. In Deutschland gibt es 103.400 Hektar bestockte Rebflächen, verteilt auf 15.200 Betriebe in 13 Bundesländern. Davon wird fast doppelt so viel Weißwein, wie Rotwein angebaut, so das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft.
Gänz folgt einem kleinen Trampelpfad Richtung Fuß des Weinberges. „Man muss loslassen können und die jungen Leute ranlassen und nicht alles wegwerfen, was die Jugend sagt“, murmelt er. Er bleibt an frisch gepflanzten Weinreben stehen. „Früher musste das mein Vater noch mit der Hand machen und alles war krumm und schief.“
Die Weinberge scheinen wie mit dem Lineal gezogen. Die ersten grünen Blätter sind bereits zu erkennen: „Heute setzen wir alle Reben und Metallstangen mit GPS-gesteuerten Maschinen ein. Das ist viel genauer“, so Gänz. Nach Vorgaben der Europäischen Gemeinschaft dürfen beim Weinbau nur sogenannte Pfropfreben verwendet werden. Dabei besteht die Rebe aus einem amerikanischen Wurzelwerk und einem europäischen Blattwerk. Das dient der Vorbeugung gegen Blattläusebefall. Bei einem Qualitätsweingut erfolgt die Ernte zu 95 Prozent vollautomatisch. Eine Erntemaschine ist so schnell wie 50 Handleser. „Wir beschäftigen auch keine Leiharbeiter, bei uns packt jeder in der Familie mit an, darauf bin ich sehr stolz“, erzählt Gänz. Das sei im Weinbau allerdings keine Selbstverständlichkeit.
Auf dem Weingut Sander in Dexheim ist das anders. Der Jungwinzer Jonas Sander steht zusammen mit seinem Vater Bernhard Sander auf seinem Weinberg. Vor ihnen die grünen Reben. Er schaut in die Ferne, am Horizont die Umrisse der Stadt. Leichter Regen setzt ein. Kleine Tropfen legen sich auf seine Brille und Sander zieht seine Kapuze auf. Im Gegensatz zu Gänz führen sie ein kleines Familienunternehmen. „Auch wenn die ganze Familie mit anpackt, sind wir auf weitere Hände angewiesen“, murmelt Sander in seine Kapuze.
Sander beschäftigt für die saisonale Ernte, neben seiner Familie, auch Erntehelfer aus Polen. Diese sind aber nicht die einzige Hilfe, auf die viele Winzer angewiesen sind. Ohne die technische Weiterentwicklung kommen die Winzer kaum noch mit der Arbeit hinterher. Dazu zählen zum Beispiel Drohnen, die Pflanzenschutzmittel sprühen oder GPS gesteuerte Traktoren. Eine vollautomatische Erntemaschine kostet die Winzer mehr als 250.000 Euro. „Mit einer Million Euro kommst du in so einem Betrieb nicht weit“, beschwert sich Sander und macht eine abfällige Handbewegung. Sander verkauft in seinem Betrieb kaum Flaschenwein. Sein Fokus liegt auf dem Verkauf von Fasswein an Großunternehmen, auch wenn der Wunsch ein anderer ist. „Uns sterben die Kunden weg, die schon seit Generationen hier einkaufen, dann müssen wir halt mehr Fasswein verkaufen“, sagt Sander enttäuscht.
Sowohl für Sander, als auch den alten Hasen Gänz, geht es um die Weiterentwicklung ihrer Höfe, aber auch um das Überleben. Am Ende müsse man davon leben können. „Es ist viel Arbeit, aber am Ende des Tages sieht man, was man geschafft hat“, erzählt Gänz. „Wein herstellen ist wie ein Kind großzuziehen: Man ist von Anfang bis Ende dabei."
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