Gesellschaft

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

Frauke Oestreich
Stephan Schacht
Moritz Stückner
Lesezeit 7 Minuten
Die Qualität der freien Enzyklopädie Wikipedia ist umstritten. Werden Artikel und Nutzer ausreichend kontrolliert?
Die Qualität der freien Enzyklopädie Wikipedia ist umstritten. Werden Artikel und Nutzer ausreichend kontrolliert?
Credit: Frauke Oestreich
Bearbeitet und gesichtet: Bei Wikipedia können alle mitmachen. Aber Qualität ist nur so gut wie ihre Kontrolle.
Lesezeit 7 Minuten

Es ist ein normaler Mittwochabend, auch für das WikiMUC München. Heute findet der Workshop „Alle können Wikipedia“ statt. Ganz unscheinbar, zwischen Wohnhäusern, ein schmales Schaufenster, überladen mit Plakaten, Bildern und Flyern. Über einen Bildschirm laufen Willkommenstexte und aktuelle Themen der WikiMUC. Mitglieder begrüßen Interessierte mit einem freundlichen „Hallo“. Ein großer Raum, gestaltet wie ein Künstler-Atelier, lädt zum kreativen Arbeiten ein. In der Mitte ein großer Holztisch. Drei Leute besuchen heute den Workshop. Durch die Corona-Pandemie sind die Menschen auch noch im März vorsichtig.

 

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Das Schaufenster des Wikipedia-Standortes in der Münchner Altstadt.
Der Wikipedia-Standort in der Münchner Altstadt ist seit 2016 Treffpunkt für Wikipedianer aus der Umgebung.
Credit: Frauke Oestreich

Wikipedia, eine Enzyklopädie, die sich die Schwarmintelligenz der Gesellschaft zunutze macht. Ein Projekt, das häufig in der Kritik steht. Besonders die Qualitätskontrolle wirft Fragen auf. Denn im Vordergrund steht die Selbstkontrolle: Nutzer kontrollieren Nutzer.

„Mir ging es bei dem Workshop nicht darum, das Editieren zu lernen, sondern darum, einen besseren Überblick über das ganze Wikipedia-Ökosystem zu bekommen und neue Kontakte zu knüpfen“, sagt Ole Nielsen. Er ist bereits angemeldeter User. Erst seit Kurzem ist er in Rente und möchte sich in seiner freien Zeit erneut Wikipedia widmen. Auch für Henning Schlottmann stehen die Menschen hinter dem Projekt im Vordergrund: „Wenn es nur darum gehen würde, vor seinem eigenen Laptop zu sitzen, würde ich das hier nicht machen.“ Schlottmann ist seit 2005 bei Wikipedia angemeldet und von Anfang an bei der WikiMUC dabei.

„Gemeinsam wissen wir mehr“

Der WikiMUC ist einer der fünf Wikipedia-Standorte in Deutschland. Ein vom gemeinnützigen Verein Wikimedia Deutschland finanziertes, weltweit einzigartiges Pilotprojekt, um Zusammenkünfte zu ermöglichen. Ganz nach dem Motto der Wikipedia „Gemeinsam wissen wir mehr“ kann jeder und jede in der Online-Enzyklopädie mitwirken. Auf allen Seiten der Plattform können Autoren und Autorinnen über den Button „Bearbeiten“ Texte verbessern, ergänzen oder neue Artikel anlegen. Sie müssen sich hierzu weder registrieren noch unter eigenem Namen arbeiten. In der sogenannten Versionsgeschichte eines Artikels können dann alle, die Wikipedia nutzen, Veränderungen nachvollziehen. Zu sehen sind die gewählten Benutzernamen oder die entsprechenden IP-Adressen.

 

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Der große Tisch in der WikiMUC bietet viel Platz zum gemeinsamen Arbeiten.
Bei WikiMUC ist viel Platz zum gemeinsamen Arbeiten.
Credit: Moritz Stückner

„Angefangen habe ich mit Kleinstkram“, so Henning Schlottmann. „Ich bin mit irgendeinem Thema eingestiegen und habe verwandte Seitenfelder gefunden, aus denen heraus es dann weiter ging.“ Während es früher, laut Schlottmann, noch keinen Bestand an Artikeln gab und jede Ergänzung, jeder Beitrag neu und nützlich war, fällt es heute manchen Neulingen schwer, einen Einstieg zu finden. Ole Nielsen interessiert sich für die Wartung und Pflege der vorhandenen Artikel. „Im Vordergrund steht natürlich der Spaß an der Sache“, so der Rentner. Freude am Editieren, die sich auch bei den Workshopleitern widerspiegelt. Mit ansteckendem Enthusiasmus vermitteln sie das Motto der Wikipedia.

Die Wikipedia bietet Hilfestellungen für Leute, die einsteigen und mitarbeiten möchten. Während Workshops die inneren Strukturen näherbringen und Zeit für Fragen bieten, können über Starthilfeseiten unausgereifte Beiträge gefunden werden. Höhere technische Kenntnisse braucht man nicht: Jeder der einen Artikel bearbeitet, findet sich in einem Textfeld wieder, das einem Word-Dokument gleicht.

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Henning Schlottmann, Jurist aus der Technologie-Branche, editiert seit 2005 für die Wikipedia.
Henning Schlottmann, Jurist aus der Technologie-Branche, editiert seit 2005 für die Wikipedia.
Credit: Stephan Schacht

„Bei unangemeldeten Schreibern oder Neulingen bleiben die Edits im Zwischenraum hängen“, so Henning Schlottmann. Er ist sogenannter Sichter. „Sichtungen sind keine Qualitätssicherung im Sinne der großen Verbesserung des Bestehenden, sondern nur ein blanker Schutz vor Vandalismus.“ Die Wikipedia strebt solche Sichtungen innerhalb einer Stunde an. Erst dann werden die Beiträge von Nutzern ohne Sichter-Status für die Öffentlichkeit freigeschaltet. Doch die haben viel zu tun: Auf aktuell fast vier Millionen Benutzerkonten im deutschsprachigen Raum kommen etwa 21.000 aktive Sichter und circa 42.000 passive Sichter. Allein Schlottmann hat in den vergangenen sieben Tagen 21 und im letzten Jahr 1.700 Beiträge gesichtet. Insgesamt hat er seit 2005 86.000 Beiträge gesichtet, bearbeitet oder geschrieben.

Wenn Nutzende Inhalte bewusst beschädigen, spricht die Wikipedia von Vandalismus. Darunter fällt beispielsweise absichtliches Verfälschen von Informationen oder das Einfügen von Unsinn in Artikeln. Zur Qualitätskontrolle stellen die Freiwilligen der Wikimedia Deutschland eine hierarchische Struktur. Dabei findet sich das Sichter-Prinzip an unterster Stelle. Eine Software schaltet angemeldete Nutzer nach frühestens 30 Tagen und nach gewissen Bedingungen  – unter anderem mindestens 50 erfolgreichen Edits - zum passiven Sichter frei. Ihre Beiträge und Bearbeitungen werden somit direkt für die Öffentlichkeit sichtbar. Im weiteren Verlauf des automatisierten Verfahrens kann die aktive Stufe erreicht werden, die es ihnen erlaubt, Beiträge anderer User zu sichten. Dafür ist keine inhaltliche Expertise erforderlich.

Vertrauen statt Kontrolle

„Wenn man lange genug dabei ist, dient der Sichterstatus nicht mehr als Kontrolle“, so Schlottmann. „Wir vertrauen Leuten, die langjährige Erfahrungen haben und sich lange sinnvoll beteiligt haben.“ Schlottmann, Jurist aus der Technologie-Branche, hat viel Erfahrung beim Sichten. Findet er keine Belege, weist er Veränderungen als unschlüssig oder aufgrund mangelnden Fachwissens zurück, macht sie also rückgängig. „Dazu ist auch die Leserschaft angehalten. Wenn ihr auf fragliche Inhalte trefft, meldet die und stellt sie auf den Diskussionsseiten zur Diskussion!“

Als Bestandteil der Kontrolle kann zudem jeder auf Diskussionsseiten zu Artikeln und Benutzern Meinungen äußern und hinterfragen. Zur weiteren Qualitätssicherung stellt Wikipedia gewählte Instanzen, beispielsweise Administratoren. Zu deren Hauptaufgaben gehört es, Inhalte und Benutzer zu sperren. Um bezahltes Schreiben transparenter zu machen, können insbesondere Unternehmen, Verbände oder Politiker auch verifizierte Benutzerkonten erstellen. Sie können sich per E-Mail identifizieren und ihre Aktivitäten auf Wikipedia klar erkennbar und nachvollziehbar machen.

Immer wieder hagelt es Kritik

Trotz all dieser Mechanismen ist Wikipedia stark in die Kritik geraten, insbesondere seit einem Beitrag in Jan Böhmermanns Late-Night-Satire ZDF Magazin Royale. Auch Marvin Oppong sieht Schwachstellen für Missbrauch im Konzept der Wikipedia. Oppong, freier Journalist, hob bereits 2014 in seiner Studie „Verdeckte PR in Wikipedia“ hervor, dass PR sowie Manipulationen in Wikipedia allgegenwärtig sind: „Zu groß ist die Zahl der Unternehmenspressestellen und PR-Agenturen, zu klein der harte Kern der Wikipedia-Community.“ Das schrieb Oppong in der Untersuchung für die Otto-Brenner-Stiftung. Und auch in seinem Artikel „Wikipedia als Eldorado für PR-Abteilungen“ für das Magazin „M – Menschen Machen Medien“ im April 2020 bleibt er bei seiner Kritik: „Zwar lässt sich in der Versionsgeschichte nachschauen, wer Änderungen eingefügt hat, doch erscheint dort bei unangemeldeten Benutzern nur die IP-Adresse, die sich verschleiern lässt, und bei angemeldeten Benutzern nur ein beliebig wählbarer Benutzername. Dies ist eine regelrechte Einladung an PR-Leute, Manipulationen in Wikipedia vorzunehmen. Unternehmen versuchen sich in der Enzyklopädie selbst besser oder Konkurrenten schlechter aussehen zu lassen.“

In München bemüht sich Henning Schlottmann jedoch weiter um freiwillige, unbezahlte Schreibende. Der Workshop an diesem Mittwochabend schließt mit einer Einladung für die Sitzungen der kommenden Wochen der WikiMUC. Die Wikipedianer verabschieden die Teilnehmenden mit einem freundlichen „Servus“ und bedanken sich für das Kommen. Die schwere Eingangstür fällt ins Schloss und die Teilnehmer verlaufen sich in den Straßen der Münchner Altstadt.

 

Nicht nur die Qualitätskontrolle scheint ein Thema bei Wikipedia zu sein. Die Freiwilligen der WikiMUC machen ihre geringe Frauenquote zu einer Herzensangelegenheit. Mehr dazu im Beitrag „Heißt es WikipediA oder WikipediER?"!

Ein Artikel von

Frauke Oestreich
Stephan Schacht
Moritz Stückner